I. Wurzeln.
Rn 6
Die Wurzeln müssen in das betroffene Grundstück hinüber gewachsen sein; eine Grenzüberschreitung ist notwendig.
II. Zweige.
Rn 7
Auch hinsichtlich der Zweige muss eine Grenzüberschreitung vorliegen; sie müssen also in den Luftraum über dem betroffenen Grundstück herüberragen. Das Selbsthilferecht ist nicht auf Zweige bis zu einer bestimmten Höhe beschränkt, vielmehr dürfen herüberragende Zweige in jeder Höhe abgeschnitten werden.
III. Beseitigungsfrist.
Rn 8
Der Berechtigte (Rn 3 f) darf herüberragende Zweige erst dann abschneiden, wenn er zuvor dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgte (I 2). Das Beseitigungsverlangen hat gärtnerisch-botanische Belange zu berücksichtigen. Deshalb darf ein Abschneiden während der Wachstumsperiode oder während der Zeit des Fruchtstandes nicht verlangt werden (MüKo/Brückner Rz 6).
Rn 9
Die Dauer der Frist richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind sowohl der Aufwand, der für das Abschneiden erforderlich ist, als auch das Interesse des Berechtigten, den Luftraum über dem Grundstück frei von herüberragenden Zweigen zu haben.
Rn 10
Die Frist ist dem Besitzer des Nachbargrundstücks zu setzen. Das ist derjenige, der tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, dem Beseitigungsverlangen nachzukommen. Somit ist jeder, der das Nachbargrundstück bewirtschaftet, also neben dem Eigentümer auch der Nießbraucher, der Erbbauberechtigte, der Pächter und ggf – je nach vertraglicher Gestaltung – der Mieter Adressat des Verlangens.
Rn 11
Keiner vorherigen Fristsetzung bedarf es, wenn der Berechtigte (Rn 3) die auf das Grundstück hinüber gewachsenen Wurzeln abschneiden will. Allerdings kann er nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242) verpflichtet sein, den Besitzer des Nachbargrundstücks (Rn 10) von dem bevorstehenden Abschneiden der Wurzeln in Kenntnis zu setzen. Denn diesem obliegt es, nach dem Abschneiden die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um weitere Schäden an dem Baum oder Strauch zu verhindern.
IV. Beeinträchtigung.
Rn 12
Nach II besteht das Selbsthilferecht nur, wenn die hinüber gewachsenen Wurzeln und die herüberragenden Zweige die Benutzung des betroffenen Grundstücks beeinträchtigen. Eine mittelbare Beeinträchtigung, zB durch Abfallen von Laub, Nadeln oÄ, reicht aus (BGH WuM 21, 518, 519). Bei der Beurteilung, ob eine Beeinträchtigung vorliegt, ist ein objektiver Maßstab anzulegen (BGHZ 157, 33, 39). Sie ist jedenfalls dann gegeben, wenn die wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks beeinträchtigt wird. Ganz unerhebliche Beeinträchtigungen, wie zB ein in 5 m Höhe 0,4 m herüberragender Zweig müssen hingenommen werden (BGH WuM 21, 518, 519). Landesrechtliche Regelungen können das Selbsthilferecht nicht einschränken (BGH WuM 21, 518, 519 [BGH 11.06.2021 - V ZR 234/19]).
Rn 13
Der Eigentümer kann frei darüber entscheiden, wie er sein Grundstück nutzt. Auf die Ortsüblichkeit der Grundstücksnutzung (dazu § 906 Rn 23 ff) kommt es ebenso wenig an wie auf ihre Zweckmäßigkeit (BGH MDR 19, 1309f [BGH 14.06.2019 - V ZR 102/18]). Auch ist es nicht erforderlich, dass der Eigentümer eine einmal begonnene Nutzung für immer ohne Änderung fortsetzt.
Für das Bestehen des Selbsthilferechts reicht es aus, wenn die Beeinträchtigung erst infolge einer Nutzungsänderung eintritt (BGHZ 135, 235, 241).
V. Gewächse.
Rn 14
Neben den im Gesetz genannten Bäumen und Sträuchern können auch die hinüber gewachsenen Wurzeln oder die herüberragenden Zweige anderer Gewächse wie Ranken, Stauden oder Unkraut abgeschnitten werden.
VI. Naturschutzrechtliche Verbote.
Rn 15
Das Selbsthilferecht kann durch naturschutzrechtliche Verbote insbes in Baumschutzsatzungen beschränkt oder ausgeschlossen sein. Das hindert jedoch nicht von vornherein seine Ausübung, weil vielfach Ausnahmegenehmigungen erteilt werden können. Nicht nur der Besitzer des Nachbargrundstücks, von welchem die Grenzüberschreitung durch Wurzeln oder Zweige ausgeht, sondern auch der beeinträchtigte Grundstückseigentümer kann die Befreiung von öffentlich-rechtlichen Verboten beantragen (OVG Lüneburg NJW 96, 3225 [OVG Niedersachsen 11.04.1996 - 3 L 3798/94]). Wird keine Ausnahmegenehmigung erteilt, darf der Betroffene sein Selbsthilferecht nicht ausüben. In diesem Fall kommt ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch nach § 906 II 2 analog (dazu § 906 Rn 41 f) in Betracht, wenn der Betroffene durch die hinüber gewachsenen Wurzeln oder durch die herüberragenden Zweige einen Schaden erleidet (vgl BGHZ 160, 232).