I. Gebäude.
Rn 5
Gebäude ist ein Bauwerk, das fest mit dem Erdboden verbunden und allseitig durch Wände und Dach verschlossen ist und den Eintritt von Menschen ermöglicht sowie Schutz gegen äußere Einflüsse gewährt. Unerheblich ist, ob das Gebäude für dauernd oder nur zu einem vorübergehenden Zweck errichtet wurde (§ 95 I 1). Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift (Rn 1) ist § 912 auch auf andere größere Bauwerke als Gebäude wie zB Ufermauern anzuwenden, wenn deren Beseitigung zu einer dem Abriss eines Gebäudes vergleichbaren Zerschlagung wirtschaftlicher Werte führte (BGH WM 15, 1776, 1780). Leicht versetzbare Gebäude wie zB Gartenhäuser fallen nicht unter die Vorschrift.
Rn 6
§ 912 findet nur auf einheitliche Gebäude Anwendung. Maßgeblich für die Beurteilung der Einheitlichkeit ist die Verkehrsanschauung; die körperliche bautechnische Beschaffenheit ist nicht das allein entscheidende Kriterium (BGH WuM 23, 619, 621 [BGH 15.06.2023 - V ZB 12/22]). Können Teile eines Gebäude nicht voneinander getrennt werden, ohne dass der eine oder der andere Teil zerstört oder in seinem Wesen verändert wird, handelt es sich um ein einheitliches Gebäude (BGH NJW 82, 756). Kann dagegen ein Anbau, der vollständig auf dem überbauten Grundstück steht, ohne nachteilige Folgen für das auf dem Grundstück des Überbauenden stehende Gebäude abgerissen werden, kommt § 912 nicht zur Anwendung (vgl BGH WM 17, 451, 454).
Rn 7
Die Vorschrift ist nicht erst nach der Fertigstellung des Gebäudes anzuwenden. Sie greift bereits dann ein, wenn die Errichtung des Gebäudes so weit fortgeschritten ist, dass eine Werterhaltung (Rn 1) aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll erscheint.
II. Überbau, Stammgrundstück.
Rn 8
Das Gebäude (Rn 5 ff) muss von einem Grundstück aus (Stammgrundstück) teilweise über die Grenze auf das Nachbargrundstück gebaut worden sein. Welches das Stammgrundstück ist, bestimmt sich allein nach den Absichten und wirtschaftlichen Interessen des Bauherrn (Rn 2) im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks (BGH NJW 89, 789, 790). Die Größe oder die Wichtigkeit des über die Grundstücksgrenze gebauten Gebäudeteils im Verhältnis zu dem auf dem Grundstück des Geschäftsherrn stehenden Gebäudeteil spielt für die Bestimmung des Stammgrundstücks keine Rolle (BGHZ 110, 298, 302). Kein Überbau iSd Vorschrift ist es, wenn es an einem Stammgrundstück fehlt (BGH NJW 85, 789, 790).
Rn 9
Wird das Gebäude innerhalb der Grenzen eines Grundstücks errichtet und entsteht erst später durch Grundstücksteilung die Überbausituation, ist die unmittelbare Anknüpfung an die Absichten des Bauherrn idR nicht möglich. In diesem Fall muss das Stammgrundstück nach objektiven Kriterien bestimmt werden; danach ist als Stammgrundstück das Grundstück anzusehen, auf welchem sich der nach Umfang, Lage und wirtschaftlicher Bedeutung eindeutig maßgebende Teil des Gebäudes befindet (BGHZ 110, 298, 302f).
Rn 10
An die Absichten des Bauherrn kann ebenfalls dann nicht unmittelbar angeknüpft werden, wenn der Eigentümer zweier Grundstücke bei der Errichtung eines Gebäudes einen Teil über die Grundstücksgrenze gebaut hat. Doch können sich seine Absichten aus den objektiven Gegebenheiten erschließen (BGHZ 110, 298, 303).
Rn 11
Da sich das Eigentumsrecht des Nachbarn auch auf den Raum über der Oberfläche und auf den Erdkörper unter der Oberfläche seines Grundstücks erstreckt (§ 905), liegt ein Überbau iSv § 912 immer dann vor, wenn ein Gebäude die Grundstücksgrenze im Luftraum, auf dem Erdboden oder unter der Erdoberfläche überschreitet. Deshalb können zB Erker, Dachvorsprünge, Balkone, Mauerausbuchtungen, eine geneigte Wand, Keller und Fundamente ein Überbau sein.
Rn 12
Nicht erforderlich ist es, dass der Überbau bei der Errichtung des Gebäudes entsteht. Auch auf spätere Veränderungen eines Gebäudes kann die Vorschrift entsprechende Anwendung finden (BGH MDR 09, 24 [BGH 19.09.2008 - V ZR 152/07]).
III. Verschulden des Überbauenden.
Rn 13
Die Duldungspflicht des Nachbarn besteht nur dann, wenn der Überbauende (Rn 2) ohne Vorsatz und ohne grobe Fahrlässigkeit über die Grundstücksgrenze gebaut hat. War er sich dagegen der Grenzüberschreitung bewusst oder hat er sich bei der Errichtung des Gebäudes im Hinblick auf den Verlauf der Grundstücksgrenze und auf das Erfordernis, diese nicht zu überbauen, besonders unsorgfältig verhalten, indem zB bei zweifelhaftem Grenzverlauf eine Vermessung unterlassen und die Grenze deshalb überbaut wurde (BGHZ 156, 170, 171f), braucht der Nachbar den Überbau nicht zu dulden. Die grobe Fahrlässigkeit kann sich auch darauf beziehen, dass sich der Geschäftsherr für berechtigt hält, über die Grundstücksgrenze zu bauen, indem er zB das Einverständnis des Nachbarn annimmt.
Rn 14
Für vorsätzliches oder grob fahrlässiges Handeln seines Architekten, dem der Überbauende (Rn 2) die Planung und Ausführung des Bauvorhabens übertragen hat, ist der Bauherr nach § 166 analog verantwortlich (BGHZ 42, 63; aA Staud/Roth Rz 27). Ein Verschulden des Bauunternehmers und seiner Mitarbeiter an der Überschreitung der Grundstücksgrenze wird dem Geschäftsher...