I. Duldungspflicht des Nachbarn.
Rn 18
Hat der Überbauende hinsichtlich der Grenzüberschreitung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt (Rn 13 f) und fehlt es an einem Widerspruch des Nachbarn gegen die Überbauung (Rn 15 f), ist dieser zur Duldung des Überbaus verpflichtet. Er verliert seinen Abwehranspruch aus §§ 903, 1004 I; darin liegt eine unmittelbar aus dem Gesetz folgende Eigentumsbeschränkung. Sie hat – ohne Eintragung im Grundbuch – dingliche Wirkung und trifft den jeweiligen Eigentümer des Nachbargrundstücks. Zur Vermeidung künftigen Streits kann die Duldungspflicht Inhalt einer Grunddienstbarkeit sein (BGH NJW 14, 311f [BGH 15.11.2013 - V ZR 24/13]). Die Duldungspflicht besteht so lange, wie der Überbau (Rn 8 ff) existiert; sie entfällt nach dem vollständigen Abbruch des auf dem Stammgrundstück stehenden Gebäudes (BGH MDR 20, 1178). Sie endet auch, wenn der Nachbar etwa aufgrund eines zeitlich befristeten Mietvertrags die Inanspruchnahme seines Grundstücks nur vorübergehend gestattet hat; in diesem Fall endet die Duldungspflicht des Nachbarn mit dem Zeitablauf (BGHZ 157, 301, 307f). Keine Duldungspflicht besteht bei einem Überbau, der nicht den Regeln der Baukunst entspricht (BGH WuM 08, 675f [BGH 19.09.2008 - V ZR 152/07]). Zur Duldungspflicht für einen zu DDR-Zeiten ohne Einverständnis errichteten Überbau vgl BGH ZOV 19, 68 ff. Eine Duldungspflicht kann sich auch aus landesgesetzlichen Regelungen betr die Verpflichtung zur nachträglichen Anbringung einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung am Nachbargebäude ergeben (BGH WuM 22, 45, 48 [BGH 12.11.2021 - V ZR 115/20], Rz 18).
Rn 19
Die Duldungspflicht des Nachbarn lässt nicht nur seinen Abwehranspruch aus § 1004 I entfallen, sondern auch seinen Herausgabeanspruch aus § 985; der Überbauende (Rn 2 f) hat hinsichtlich der von dem Überbau betroffenen Grundstücksfläche ein Recht zum Besitz iSd § 986 (BGHZ 27, 204, 206).
II. Rentenpflicht des Überbauenden (Abs 2).
Rn 20
Als Ausgleich für den ausgeschlossenen Abwehranspruch aus §§ 903, 1004 I hat der Überbauende (Rn 2 f) den betroffenen Nachbarn durch die Zahlung einer Geldrente zu entschädigen (II 1). Das gilt auch zugunsten des Nachbarn, dessen Sonderrechtsvorgänger der Errichtung des Überbaus zugestimmt hat (NJW 83, 1112 [BGH 21.01.1983 - V ZR 154/81]). Die Überbaurente soll den Nutzungsverlust ausgleichen, welchen der betroffene Nachbar durch die Überbauung seines Grundstücks erleidet (BGHZ 65, 395, 398).
Rn 21
Der Anspruch entsteht in dem Zeitpunkt, in welchem die Grundstücksgrenze überbaut wird. Auf die Kenntnis des Überbauenden oder des Nachbarn von der Grenzüberschreitung kommt es nicht an. Wird diese erst später entdeckt, ist die Rente entspr nachzuzahlen.
Rn 22
Für die Höhe der Rente sind ebenfalls ausschl die Wertverhältnisse zur Zeit der Grenzüberschreitung (II 2) bzw bei Grundstücksteilung in der Weise, dass ein aufstehendes Gebäude von der neuen Grenze durchschnitten wird, im Zeitpunkt der Grundstücksteilung maßgeblich (BGH MDR 14, 269); unerheblich sind der Zeitpunkt, in welchem der Nachbar erstmals durch den Überbau beeinträchtigt wird, sowie nach der Grenzüberschreitung eintretende Wertveränderungen (BGHZ 97, 292, 297). Eine Anpassung der Rente an veränderte Umstände scheidet demnach aus (BGHZ 57, 304, 305).
Rn 23
Die Höhe der Überbaurente bemisst sich nach dem Verkehrswert der überbauten Fläche, der in der üblichen Weise zu ermitteln ist (BGHZ 57, 304, 306). Er ist angemessen zu verzinsen. Auch die Angemessenheit beurteilt sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Grenzüberschreitung.
Rn 24
Neben der Überbaurente kommt ein Schadensersatzanspruch des Nachbarn gegen den Überbauenden, auch wenn diesem einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, oder ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch nach § 906 II 2 analog (dazu § 906 Rn 41 ff) nicht in Betracht (BGHZ 97, 292, 295); § 912 II ist in seinem Anwendungsbereich eine abschließende gesetzliche Sonderregelung. Geht es dagegen um eine Eigentumsverletzung, die über den Entzug der Bodennutzung hinausgeht, hat der Nachbar einen Schadensersatzanspruch gegen den fahrlässig Überbauenden aus § 823 I (BGHZ 57, 304, 308f). Hat der Überbauende nicht einmal fahrlässig, sondern schuldlos gehandelt, kommt als Ersatz für andere Schäden als für den Verlust der Bodennutzung ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch nach § 906 II 2 analog in Betracht (BGHZ 28, 110, 114, 116).
Rn 25
Wegen der fehlenden Haftung des Überbauenden für ein Verschulden des mit der Errichtung des Gebäudes beauftragten Bauunternehmers (Rn 14) soll ein Schadensersatzanspruch des Nachbarn gegen diesen aus § 823 I nicht ausgeschlossen sein (vgl BGHZ 57, 304, 308). Die Gegenauffassung stützt sich darauf, dass es keinen Unterschied machen könne, ob der Überbauende selbst oder unter Einschaltung eines Dritten überbaut habe (Staud/Roth Rz 51). Dem ist zu folgen. Die Auffassung des BGH führt dazu, dass dem Nachbarn wegen ein und derselben Beeinträchtigung zwei verschiedene Schuldner aus zwei unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen haften, ohne dass das dadurch entstehe...