I. Europäisches Recht als Rechtsquelle des deutschen Privatrechts.
Rn 28
Eine wichtige Quelle des deutschen Privatrechts ist heute auch das Recht der europäischen Union. Teilw ergibt sich dies aus der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts (1, 2). ZT kommt es zu einer mittelbaren Einwirkung des Unionsrechts, insb durch Richtlinien (3). Schließlich dürfen die Einwirkungen der Rspr in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden (4).
1. Primäres Unionsrecht und Verordnungen.
Rn 29
Unmittelbar gilt im deutschen Privatrecht insb das primäre Unionsrecht. Dies besteht in erster Linie aus den Gründungsverträgen, va dem EG-Vertrag, seit 1.12.09 in der Gestalt des EUV und des AEUV. Hinzu kommen die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Änderungs- und Ergänzungsverträge sowie die allg Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, ferner die Grundrechte-Charta (s.u. Rn 30 aE). Aus dem Bereich des sekundären Unionsrechts haben unmittelbare Wirkung die Verordnungen (Art 288 II AEUV). Sie bedürfen daher keiner Umsetzung in nationales Recht, sind allerdings im Kernbereich des Privatrechts bisher selten anzutreffen.
2. Grundfreiheiten.
Rn 30
IRd unmittelbaren Geltung des primären Unionsrechts ragen die Grundfreiheiten des EU-Vertrags (geregelt im AEUV) heraus. Besondere Bedeutung haben das allg Diskriminierungsverbot (Art 10, 18 AEUV), die Warenverkehrsfreiheit (Art 28, 30, 34 AEUV), die Freizügigkeit von Personen und insb von Arbeitnehmern (Art 45 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art 49 AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV), die Kapitalverkehrsfreiheit (Art 63 AEUV), schließlich die Regelungen über das Verbot mengenmäßiger Ausfuhrbeschränkungen (Art 35 AEUV), die Regelungen im Bereich des Wettbewerbs- und Kartellrechts sowie der verbotenen Beihilfen (Art 101, 107, 108 AEUV) und das Gebot gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art 157 AEUV). Grundrechte enthält der EUV unmittelbar nicht (beachte aber Art 2, 3 I, 6 EUV). Jedoch hat sich die Union eine ›Charta der Grundrechte der Europäischen Union‹ gegeben, die nunmehr rechtlich verbindlich und gleichrangig mit EUV und AEUV Geltung beansprucht (Art 6 EUV). Darüber hinaus nimmt Art 6 III EUV auf die Grundrechte der EMRK Bezug. Die EMRK selbst gilt in Deutschland als einfaches Gesetzesrecht; zur Einwirkung der EMRK auf das Zivilrecht vgl Rebhahn AcP 210, 489.
3. Richtlinien.
Rn 31
Von sehr großer Bedeutung sind im deutschen Privatrecht die europäischen Richtlinien, durch die die einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet werden, ihr nationales Recht an den Inhalt der Richtlinien anzupassen. Erst die Umsetzung dieser Richtlinien führt zur Angleichung und Rechtsanwendung. Die Zahl der privatrechtsrelevanten Richtlinien ist sehr groß (zu einer Aufzählung vgl MüKo/Säcker Einl Rz 214 ff). Die Kenntnis der Richtlinien ist für die europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts von großer Bedeutung (s.u. Rn 35). Bisher hat die Umsetzung der Richtlinien in Europa nur in sehr begrenztem Umfang eine Rechtsvereinheitlichung gebracht, weil die großen Spielräume bei der Umsetzung der Richtlinien dazu führen, dass die einzelnen Nationen sie sehr unterschiedlich ausfüllen (zur neueren Entwicklung v Danwitz JZ 08, 697). Die Befugnis der EU zur Rechtssetzung durch Richtlinien (sowie durch VO) gründet auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung durch den EUV. Häufig wird allerdings darauf hingewiesen, dass sich kompetenzrechtlich bedenkliche Vorschläge in neuerer Zeit vermehrt zeigen. Das berühmteste Beispiel hierfür sind die Vorschläge und Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung (vgl Reding 69. DJT 12) sowie die Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB), vgl Schmidt JZ 15, 317.
4. Rechtsprechung.
Rn 32
Besondere Bedeutung für die europarechtliche Entwicklung des deutschen Privatrechts weist die Rspr des EuGH auf. Dieser ist über das Vorabentscheidungsverfahren gem Art 267 AEUV (= 234 EG = 177 EWGV) in der Lage, die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem EU-Recht bindend zu prüfen und festzulegen. Darüber hinaus sind auch alle nationalen Gerichte verpflichtet, ihr Recht unionskonform auszulegen. Dazu sind die Gerichte wie alle anderen Organe der Mitgliedstaaten verpflichtet. In der Praxis kann die Bedeutung der Rspr des EuGH heute wohl kaum überschätzt werden.
II. Die Anwendung des europäischen Rechts.
Rn 33
Grundlegend ist zunächst die Entscheidung des EuGH v 5.2.63 (van Gend und Loos NJW 63, 974) gewesen, die erstmals eine eigene europäische Rechtsgemeinschaft unter Einbezug der einzelnen Bürger begründet hat. Für das seither unmittelbar geltende Unionsrecht besteht ein Anwendungsvorrang (EuGH Slg 64, 1251, 1269 = NJW 64, 2371; Slg 70, 1125 = NJW 71, 343; Slg 78, 629, 644 = NJW 78, 1741; NJW 99, 2355; Urt v 19.4.16 – Rs C-441/14; BVerfGE 73, 378 – Solange II). Nach dem EuGH gilt dieser ausnahmslos, weil der Vorrang auf dem Wesen der EU als autonomer Rechtsordnung beruht. Nach dem BVerfG sind vom Vorrang drei Ausnahmen anzuerkennen (Grundrechtskontrolle, Verfassungsidentitätskontrolle, ultra-vires-Kontrolle), weil der Vorrang Kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung gilt (BVerfGE 73, 339, 378 – Solange II; 123, 267, 354 – Lissabon; 126, 286 – Mangold; JZ 14, 341 – OMT; dazu Dederer JZ...