I. Das klassische Subsumtionsmodell.
Rn 37
Rechtsanwendung ist ohne ein methodisches (also kontrolliertes und kontrollierbares) Vorgehen nicht denkbar. Anderenfalls könnte Rechtsanwendung weder Rechtssicherheit gewähren noch gerichtliche Überprüfung ermöglichen. Dem Missbrauch des Rechts wäre Tür und Tor geöffnet, wie ›die unbegrenzte Auslegung‹ (Rüthers) in der NS-Zeit gezeigt hat. Eine wissenschaftlich kontrollierbare Rechtsanwendung geht bis heute vom klassischen Subsumtionsmodell aus. Dies bedeutet, dass ein Rechtssatz (also eine normative Regelung, ein Sollen) einem tatsächlichen Geschehen (Sachverhalt, Tatfrage, Sein) ggü gestellt wird. Anschließend wird iRd Syllogismus als eines logischen Schlussverfahrens aus der Gegenüberstellung des Rechtssatzes (Obersatz) und des Sachverhalts (Untersatz) ein Schlusssatz gefolgert. Dieser Schlusssatz ist die Rechtsfolge, die Konsequenz oder das Urt aus der vorgenommenen Rechtsanwendung im konkreten Fall. Die dabei vorgenommene Subsumtion stellt einen Vergleich und eine Annäherung von Obersatz und Untersatz durch Definitionen, Auslegung und Konkretisierung des Obersatzes dar, bis letztlich das Enthaltensein des Untersatzes im Obersatz (oder dessen Negation) evident feststellbar wird. Daraus ergeben sich die für jede Rechtsanwendung klassischen Fragen und konkreten Konsequenzen. Es muss im Einzelfall ein passender Obersatz aus dem Gesamtstoff des Rechts gefunden werden. Dieser muss ausgelegt, konkretisiert und notfalls im Wege der Rechtsfortbildung hergestellt werden. Ferner bedarf es der Ermittlung des konkreten Sachverhalts, dessen wesentliche Sachverhaltsteile dem rechtlichen Merkmal gegenüberzustellen sind. Der sodann zu ziehende logische Schluss und damit die Erzielung der Rechtsfolge bildet den Abschluss der Rechtsanwendung.
Rn 38
Insgesamt ist das klassische Modell der Rechtsanwendung universell einsetzbar und zeitlos. Die wissenschaftliche Diskussion über die Methoden im Recht hat allerdings gezeigt, dass es eine zwingende Methodensicherheit und Richtigkeitsgewähr nicht gibt und nicht geben kann. Richterliche Entscheidung ist nicht endgültig und zwingend vorprogrammiert. Die eigentliche Streitfrage besteht darin, wie groß der freie richterliche Spielraum ist und wie weitgehend die Bindung an das G erfolgen kann.
II. Die Rechtsgrundlagen: Norm und Richterrecht.
Rn 39
Gem Art 20 III GG besteht für die Exekutive und die Judikative eine generelle Bindung an G und Recht. Damit ist es zwingend die Aufgabe jedes Rechtsanwenders, das im konkreten Fall einschlägige Recht aufzusuchen. Dieses einschlägige Recht ist jedenfalls das gesetzte Recht, also jeder durch staatlich geregeltes oder anerkanntes Verfahren geschaffene normative Satz. Hinzu kommt zwingend das Gewohnheitsrecht, also das nicht förmlich gesetzte, sondern durch längere tatsächliche Übung entstandene Recht, wobei die Übung eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allg sein muss, und die Norm von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt werden muss (BVerfGE 22, 121). Neben dem gesetzten Recht und dem Gewohnheitsrecht werden richterrechtliche Entwicklungen bis heute allg nicht als Rechtsquelle anerkannt, sondern sie bilden nur eine Rechtserkenntnisquelle (Ausnahme § 31 BVerfGG). Auch wenn die faktisch sehr große Bedeutung des Richterrechts unbestritten ist, hat diese theoretische Position der Ablehnung von Richterrecht als Rechtsquelle wichtige Bedeutung: So kann die Rspr durch spätere Entscheidung eine frühere Auffassung jederzeit abändern, es entsteht dabei kein Rückwirkungsproblem, eine richterliche Entscheidung bedarf niemals der Aufnahme ins BGBl (Ausnahme Entscheidungen des BVerfG nach § 31 BVerfGG) und es gibt nach deutschem Recht keine strikte Präjudizienbindung. Das Aufsuchen der entscheidungserheblichen Rechtsnorm führt insb auch zu der Problematik des Vorrangs von Rechtsnormen, also zur Normenpyramide. Nach anerkannter Auffassung sind zunächst die allg Regeln des Völkerrechts (Art 25 GG) sowie das Völkergewohnheitsrecht zu beachten, sodann das Recht der Europäischen Union, weiterhin deutsches Bundesverfassungsrecht und erst danach das formelle Bundesrecht (Bundesgesetze, Gewohnheitsrecht, EMRK). Im Rang nach dem formellen Bundesrecht kommt sodann das materielle Bundesrecht (Verordnungen, Satzungen) und anschließend das Landesrecht (vgl Art 31 GG), also die jeweilige Landesverfassung, die Landesgesetze und schließlich Verordnungen und Satzungen eines Landes.
III. Die Auslegung: Das richtige Normverständnis.
Rn 40
Die Auslegung einer Norm bedeutet, den Sinngehalt des jeweiligen Rechtssatzes richtig zu erfassen. Dabei helfen allg und anerkannte Auslegungsgrundsätze. Seit Savigny ist es üblich, die vier klassischen Auslegungsgrundsätze der grammatischen, historischen, systematischen und der teleologischen Auslegung zu trennen. Ausgangspunkt einer Auslegung ist stets der Wortlaut, der Wortsinn und der Satzbau einer Norm (grammatische Auslegung). Dabei helfen Legaldefinitionen sowie ein häufig vorhandener spezieller juristischer Sprachgebrauch, aber auch der allg übliche Sprachgebrauch, auf den die Rspr teil...