Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 21
Die – nach dem ›gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts‹ getroffene – National Grid Indus-Entscheidung des EuGH (s Urt v 29.11.11 – C-371/10 Rz 26) (dazu Verse ZEuP 13, 463 ff; Teichmann in FS Hommelhoff (12), 1213, 1233 ff; Mörsdorf EuZW 12, 296; Schall/Barth NZG 12, 414; Schaper EWiR 12, 506; s zuletzt EuGH C-405/18 AURES Holdings, ECLI:EU:C:2020:127 Rz 26) bestätigt die ältere EuGH-Entscheidung Daily Mail (EuGH Urt v 27.9.88 – 81/87 Slg 88, 5483 zu einem Zustimmungserfordernis des Finanzministeriums in England; s zB Brödermann/Iversen/Brödermann Rz 207–259; Spahlinger/Wegen/Spahlinger Rz 144 ff; Ulmer/Behrens/Hoffmann Einl B Rz 90), die den Mitgliedstaaten gestattet, die Kriterien für die Gründung und den Erhalt einer Gesellschaft zu bestimmen. Da die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes von den Niederlanden in das Vereinigte Königreich (vor dem BREXIT, s IPR-Anh I/ROM I Art 1 Rn 3) die zuerkannte Rechtspersönlichkeit wegen Anknüpfung an die Gründung der Gesellschaft nicht berührt, schützt die Niederlassungsfreiheit diesen Umzug (National Grid Indus aaO Rz 28) und vor diese Freiheit beschränkenden nachteiligen Wegzugsbehinderungen (zB Schlussrechnungssteuer); dies gilt unionsweit (vgl Rn 18). Einen Hereinformwechsel muss der Zuzugsstaat zulassen, wenn er den heimischen Gesellschaften einen Formwechsel gestattet; hierfür ist erforderlich, dass für unbestimmte Zeit eine wirtschaftliche Tätigkeit von einer festen Einrichtung aus ausgeübt wird (EuGH NJW 12, 271 – ›Vale‹). Zum Formwechsel vertiefend Heckschen ZIP 15, 2049; Hübner IPRax 15, 134 ff; Seibold ZIP 17, 456; Oldbg ZIP 20, 1865 (für die Fassung des Beschlusses über die Verlegung des statuarischen Gesellschaftssitzes unter der Bedingung einer Anmeldung oder Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister und die Anwendung des Gesellschaftsrechts des Herkunftslandes auf die Identitätswahrung des Formwechsels); Gebauer/Wiedmann/Weller/Hübner § 23 Rz 33 ff. Im Einzelnen bereitet die Abwägung der Zulässigkeit von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erhebliche Schwierigkeiten, insbesondere im steuerlichen Bereich. Zur Wegzugsbesteuerung s auch EuGH C-405/18 AURES Holdings, ECLI:EU:C:2020:127; EuGH Urt v 25.4.13 – C-64/11 (Kommission/Königreich Spanien) als eine Bestätigung von National Grid Indus, mA Mitschke IStR 13, 393; EuGH Urt v 31.1.13 – C-301/11 (Kommission/Niederlande), BeckRS 13, 80253; EuGH, Urt v 6.9.12 – C-38/10 (Kommission/Portugal), EuZW 12, 947 mA Behme EWiR 12, 681. Im Oktober 17 hat der EuGH seine liberale Auslegung der Niederlassungsfreiheit wesentlich erweitert. Nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften, die die Anforderungen des Zuzugstaates erfüllen, haben – selbst ohne Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes – einen Anspruch auf Umwandlung in eine Gesellschaft des Zuzugsstaates, soweit sie die für die Gründung einer Gesellschaft geltenden Voraussetzungen erfüllen (EuGH Urt v 25.10.17 – C-106/16, NJW 17, 3639 – ›Polbud‹ Rz 35, Anm Kieninger NJW 17, 3624; zust ua Thomale IPRax 18, 248; Paefgen WM 18, 981 u 1029; abl ua Kindler NZG 18, 1; Kieninger ZEuP 18, 309). Die Niederlassungsfreiheit wird damit deutlich auf einen reinen Rechtsformwechsel über die Grenze innerhalb der Union erweitert. Eine Liquidationregelung des Wegzugsstaates (Polen) sei nicht durch das Allgemeinwohlinteresse des Gläubigerschutzes gerechtfertigt, weil die Gläubiger auch durch mildere Mittel (Bürgschaften) geschützt werden können (aaO 3642–3643). Im Grundsatz eröffnet diese Rspr die freie Wahl des Gesellschaftsstatuts auch nach der Gründung. Ihre Grenze findet diese Freiheit in Rechtfertigungen von Wegzugsschranken durch das Allgemeinwohlinteresse, für die es keine milderen Mittel gibt (Güterabwägung mit Blick auf den Rechtfertigungsgrund, der etwa im Fall des Schutzes von Minderheitsgesellschaftern oder Arbeitnehmern anders ausfallen kann als beim Schutz von Gläubigern wie Fall Polbud, EuGH NJW 17, 3639, 3643). Vor diesem Hintergrund erfolgt zu Recht der Ruf nach einer Sitzverlegungsrichtlinie, die die Rahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Rechtsformwechsel unionsrechtlich vorgibt (so zu Recht Kieninger NJW 17, 3624, 3627 und Oplustil/Sikora EWS 17, 134, 142).