Prof. Dr. Eckart Brödermann
Rn 41
Wo weder das Unions- oder EWR-Recht noch Staatsverträge die Anknüpfung an die Gründung gebieten (s Rn 11 ff), ist das deutsche autonome IntGesR in seiner Entscheidung frei. Im Hinblick auf die Vielzahl der Staaten, deren Gesellschaften kraft staatsvertraglicher Regelung mittlerweile nach der Gründungstheorie zu beurteilen sind, wird von vielen in der Literatur die Anknüpfung an die Gründung auch für diese Gesellschaften gefordert (zB Eidenmüller ZIP 02, 2231, 2244; Ulmer/Behrens/Hoffmann Einl B Rz 297; Leible/Hoffmann ZIP 03, 923, 930). Dies entspricht dem Grundgedanken der WTO, dem viele der verbleibenden Staaten angehören: Er streitet für einen globalen Wettbewerb. Missbrauch, der Gläubiger gefährdet, kann auf sachrechtlicher Ebene begegnet werden.
Rn 42
Herrschend in Deutschland ist aber traditionell die Sitztheorie (s nur zB BGH RIW 12, 807, 810 Rz 27; NJW 11, 3372, 3373; Z 97, 269, 271; IPRax 09, 259 (›Trabrennbahn‹); ZIP 09, 2385). Die Anknüpfung an den Sitz ist außerhalb der Geltung europäischer oder staatsvertraglicher Grenzen zulässig. Sie knüpft an den tatsächlichen Verwaltungssitz an (s Rn 2). Daher muss für Gesellschaften, für die die Gründungstheorie nicht kraft staatsvertraglicher Grundlage gilt, von der Geltung der Sitztheorie ausgegangen werden (BGH RIW 12, 807, 810 Rz 27, ZIP 09, 2385, 2386; IPRax 00, 423, 424 – Überseering I; so auch zB Hambg ZIP 07, 1108; BayOblG DB 03, 819; Spahlinger/Wegen/Spahlinger Rz 199; aA Ulmer/Behrens/Hoffmann Einl B Rz 58; abweichend auch Thomale NZG 11, 1290 u ZEuP 15, 517, 531: sukzessive Zuwendung des BGH zur Gründungstheorie in Form einer impliziten Kollisionsnorm). Die Sitztheorie gilt auch für Schweizer Gesellschaften (BGH BB 09, 14, 15 f; ZInsO 09, 149, 150 f; Ddorf Urt v 17.12.15, BeckRS 16, 03308). Ebenso gilt sie seit 1.1.21 (s IPR-Anh I/ROM I Art 1 Rn 3 zum BREXIT) auch für alle nach englischem Recht gegründeten Gesellschaften, die ihren Verwaltungssitz in Deutschland haben (so nun deutlich München RIW 21, 839, 840 mit ausführlicher Begründung: auch keine staatsvertraglichen Vorgaben hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit aus dem Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem VK v 24.12.20, ABl L 444/2020). Zwar galt im Verhältnis zum VK bis zum 31.12.20 die Gründungstheorie als Folge der EuGH-Rspr (s.o. Rn 11 ff, 18), doch hat der deutsche Gesetzgeber keine Regelungen zur Fortgeltung der Gründungstheorie geschaffen, sodass es bei der Sitztheorie bleibt. Die einzige gesetzgeberische Initiative war die Einführung von § 122m UmwG, der übergangsweise die Hereinverschmelzung englischer Gesellschaften auf deutsche Gesellschaften bis zum Ende der Übergangszeit unter bestimmten Voraussetzungen zuließ (Rn 10, XI. 2). Einen weitergehenden ›Bestandsschutz‹ hat der Gesetzgeber wissentlich nicht gewährt (entgegen Mäsch/Gausing/Peters IPRax 17, 49, 52 ff). Es gilt daher kein Vertrauensschutz, wie wiederholt diskutiert (s dazu Grüneberg/Thorn Anh zu Art. 12 EGBGB Rz 1 mwN, der ihn aber iErg auch ablehnt; ebenso MüKo/Kindler IntGesR Rz 522). Für vor dem 1.1.21 von Deutschland aus nach englischem Recht gegründete Gesellschaften mit Verwaltungssitz in Deutschland hat dies eine Neuqualifikation unter den numerus clausus des deutschen Gesellschaftsrechts zur Folge, zB in eine Personen- oder Personenhandelsgesellschaft mit den entsprechenden Haftungsfolgen. S dazu umfassend Seeger DStR 16, 1817 ff; Gebauer/Wiedmann/Weller/Hübner § 23 Rz 26; Heckschen GWR 22, 1; Reuter GPR 22, 97; s ähnlich für Österreich für die Behandlung als nicht rechtsfähige Gesellschaft österreichischen bürgerlichen Rechts OGH NZG 22, 1072 [LG Düsseldorf 07.03.2022 - 25 OH 24/20] mA Thomale. Eine ›Umqualifikation‹ in eine der englischen Rechtsform nahekommende deutsche Gesellschaftsrechtsform, zB Ltd in GmbH, ist abzulehnen (so zutreffend München RIW 21, 839, 840; entgegen Mohamed ZVglRWiss 18, 189, 195, 205).
Rn 43
Der tatsächliche Verwaltungssitz muss im Einzelfall sorgfältig ermittelt werden. Dabei sind zahlreiche Indizien zu bewerten und zT unterschiedlich zu gewichten (Liste nach Spahlinger/Wegen/Spahlinger Rz 80 ff, 84 ff mwN): zB Adressangabe auf Kontoeröffnungsunterlagen, ausländischer Geschäftsführer, Erreichbarkeit der Gesellschaft unter der angegebenen Adresse und Telefonnummer, Ort der Ausübung der Geschäftsführung, Geschäftszweck, zeitgleiche Gründung einer Zweigniederlassung im Ausland, Personal- und Sachausstattung, Wohnsitz der Gesellschafter und Geschäftsführer. Diese Erwägungen können bei der Beurteilung von sogenannten off-shore-Gesellschaften bzw Zwischenholdings zu überraschenden Ergebnissen führen. Die Bestimmung kann offen bleiben, wenn die zwei in Betracht kommenden Verwaltungssitze ggf über eine Weiterverweisung (s.u. Rn 44) zum selben Recht führen (Ddorf Urt v 17.12.15, BeckRS 16, 03308).
Rn 44
Die Verweisung auf das Recht am Verwaltungssitz ist eine Gesamtverweisung (Art 4 I 1). Rück- und Weiterverweisungen sind zu beachten (MüKoIPR/Kindler IntGesR Rz 510). S...