Prof. Dr. Martin Avenarius
I. Allgemeines.
Rn 13
Erbrechtliche Verfügungen können gegen die guten Sitten verstoßen. Folge ist die Nichtigkeit der Verfügung, § 138 I (insb zur Sittenwidrigkeit von Bedingungen vgl §§ 2074, 2075 Rn 6 ff), soweit die Sittenwidrigkeit reicht. Angesichts der in Art 14 GG geschützten Testierfreiheit ist bei der Bejahung der Sittenwidrigkeit Zurückhaltung geboten. Voraussetzung ist das Vorliegen objektiv sittenwidriger Tatsachen, die (anders als das Sittenwidrigkeitsurteil selbst) dem Erblasser evident waren.
Rn 14
Für die Ermittlung der Sittenwidrigkeit ist – wie bei anderen Rechtsgeschäften – grds auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts, also der Errichtung des Testaments, abzustellen (BGHZ 20, 71). Richtigerweise ist jedoch eine Verfügung, die bei Eintritt des Erbfalls aufgrund eines Wandels der Anschauungen nicht mehr als sittenwidrig anzusehen ist, nach den zur Zeit des Erbfalls herrschenden Kriterien zu behandeln (Hamm FamRZ 79, 1074; Erman/Schmidt/Nobis vor § 2064 Rz 13; Lange/Kuchinke § 34 IV 5; krit Staud/Otte vor § 2064 Rz 181).
II. Fallgruppen.
1. Belohnung sittenwidrigen Verhaltens.
Rn 15
Die früher hM hielt eine Zuwendung für sittenwidrig, wenn sie den ausschl Zweck hatte, Geschlechtsverkehr zu entlohnen oder durch die Aussicht auf den künftigen Erwerb zum Geschlechtsverkehr zu motivieren (›Geliebtentestament‹, vgl BGHZ 53, 369). IdR aber liegt die Motivation des Erblassers nicht ausschl im sexuellen Bereich (BayObLG FamRZ 02, 915). Inzwischen steht dieser Auffassung das ProstG vom 20.12.01 entgegen, welches die Vereinbarung eines Entgelts für sexuelle Kontakte für rechtsverbindlich erklärt. Eine solche Vereinbarung kann insoweit (unabhängig von ihrer sittlichen Bewertung) jedenfalls nicht gleichzeitig wegen Sittenwidrigkeit für nichtig gehalten werden. Gleiches gilt für ein von Todes wegen zugewendetes Entgelt für sexuelle Kontakte (Staud/Otte vor § 2064 Rz 147; Armbrüster NJW 02, 2764), vgl aber unten Rn 17.
2. Verletzung familiärer Solidaritätspflichten.
Rn 16
Ehegatten tragen füreinander Verantwortung (§ 1353 I 2), Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig (§ 1618a). Diese Verpflichtungen gelten auch im Bereich der Errichtung letztwilliger Verfügungen. Grds ist der Erblasser allerdings bereits durch das die Testierfreiheit beschränkende Pflichtteilsrecht (§§ 2303 ff) zu familiärer Solidarität gezwungen und kann ansonsten nach Belieben testieren (Grziwotz ZEV 94, 269). Allerdings kann eine Verfügung von Todes wegen gegen die guten Sitten verstoßen, wenn sie den Ehegatten oder ein Kind zugunsten nichtpflichtteilsberechtigter Personen übergeht und dies trotz des Pflichtteilsanspruches zur Folge hat, dass der Übergangene bedürftig iSd Unterhaltsrechts bleibt oder wird (BGH NJW 84, 2150 f; BayObLG FamRZ 02, 915). Eine Ungleichbehandlung von Angehörigen, also eine Übergehung eines Angehörigen zugunsten eines anderen, verstößt hingegen nicht gegen § 138 (vgl BVerfG NJW 00, 2495 [BVerfG 21.02.2000 - 1 BvR 1937/97]).
Rn 17
Der BGH hat die Voraussetzungen des § 138 I darüber hinaus auch bei ›kränkender Zurücksetzung naher Angehöriger‹ hinter ferner stehende Personen, etwa Geliebte oder Freunde, bejaht (BGH NJW 84, 2150 [BGH 12.01.1984 - III ZR 69/83]). Es kann jedoch angesichts der Pflichtteilsansprüche nur die krasse Zurücksetzung durch völlige Enterbung als Anknüpfungspunkt für die Sittenwidrigkeit in Betracht kommen. § 138 würde missverstanden, wenn man aus der Vorschrift einen weitergehenden Schutz bloßer Empfindlichkeiten herleiten wollte (BayObLG FamRZ 92, 226; Staud/Otte vor § 2064 Rz 162).
3. Testierfreiheit und Sozialleistungen.
Rn 18
Als sittenwidrig wurde es zT auch angesehen, wenn ein Erblasser, zu dessen pflichtteilsberechtigten Angehörigen ein Empfänger von Sozialhilfe zählt, Zuwendungen an ihn so gestaltet, dass diese nicht dem Zugriff des Sozialhilfeträgers ausgesetzt sind (›Behindertentestament‹, LG Konstanz FamRZ 92, 360; LG Flensburg NJW 93, 1866; krit Staud/Otte vor § 2064 Rz 168; Damrau ZEV 98, 1). Der BGH hat jedoch die Sittenwidrigkeit von Behindertentestamenten verneint (BGHZ 118, 96). Eine Verfügung von Todes wegen, mit der Eltern ihr behindertes, auf Kosten der Sozialhilfe untergebrachtes Kind nur als Vorerben auf einen den Pflichtteil kaum übersteigenden Erbteil einsetzen, bei seinem Tod ein anderes Kind als Nacherben berufen und dieses zum Vollerben auch des übrigen Nachlasses bestimmen, verstößt danach nicht gegen § 138 I, auch soweit dadurch der Sozialhilfeträger keinen Kostenersatz erlangt (BGH NJW 94, 248; NJW 90, 2055). Zu Gestaltungsfragen Ruby ZEV 06, 66; Mayer ZErb 99, 60 und 00, 16.
Entsprechend dürfte auch bei der Erbeinsetzung von Personen zu verfahren sein, die aus anderen Gründen Sozialleistungen beziehen (›Hartz-IV-Testament‹, vgl Litzenburger ZEV 2009, 278; Klühs ZEV 2011, 15).