Prof. Dr. Moritz Brinkmann
Rn 46
Um auch in Fällen des Massenverkehrs, in denen Leistungen öffentlich angeboten werden und die Parteien keine ausdrücklichen Willenserklärungen abgeben, einen Vertragsschluss konstruieren zu können, wurde die Lehre vom faktischen Vertrag entwickelt (vgl noch BGHZ 21, 334). Heute wird sie allg abgelehnt, da das gewünschte Ergebnis auch über die Annahme konkludenter Willenserklärungen erreicht werden kann (BGHZ 95, 339).
Rn 47
So liegt in den Fällen von öffentlich angebotenen Leistungen (Beförderung im Öffentlichen Personennahverkehr, Benutzung von Parkplätzen, Versorgung mit Strom, Gas, Wasser, Telekommunikationsleistungen) im Anbieten der Leistung eine Realofferte, die der Benutzer durch die Inanspruchnahme der Leistung annimmt (BGH NJW 12, 1948 [BGH 22.03.2012 - VII ZR 102/11]; BGH NJW 06, 1668 [BGH 15.02.2006 - VIII ZR 138/05]; NJW 06, 1971 [BGH 16.03.2006 - III ZR 152/05]). Es ist allerdings erforderlich, dass dem Nutzer die Mitwirkung des anderen Teils an der zu erbringenden Leistung deutlich wird (BGH NJW 05, 3636 f: Kein Entgeltanspruch von Verbindungsnetz- und Plattformbetreibern ggü Telefonkunden bei Mehrwertdiensten; s aber auch BGH NJW 07, 438 [BGH 16.11.2006 - III ZR 58/06]) und dass die Leistung nicht aufgrund bestehender vertraglicher Verpflichtung ggü einem Dritten angeboten wird (BGH NJW-RR 04, 928 [BGH 17.03.2004 - VIII ZR 95/03]). Der Zugang dieser konkludenten Willenserklärung (Willensbetätigung mit Erklärungsgehalt) ist nach § 151 entbehrlich. Die Vorschriften über Willenserklärungen sind auf die Willensbetätigung anwendbar, sodass Geschäftsfähigkeit erforderlich ist, die Anfechtung wegen eines Irrtums über die Rechtserheblichkeit des Verhaltens (§ 119 I) ist allerdings ausgeschlossen (Grüneberg/Ellenberger Einf v § 145 Rz 25).
Rn 48
Nimmt der Benutzer die Leistung in Anspruch, lehnt aber gleichzeitig eine rechtsgeschäftliche Bindung ab, so ist der Vertragsschluss problematisch. Wird der Vorbehalt nicht ausdrücklich kundgetan, so ist er gem § 116 als Mentalreservation nichtig (Jauernig/Mansel Vor § 145 Rz 20). Wenn der Vorbehalt vom Benutzer allerdings nach außen deutlich gemacht wird, so wird von der hM auf die Regel protestatio facto contraria non valet zurückgegriffen, nach der die Äußerung als widersprüchliches Verhalten unbeachtlich sein soll, sodass dennoch ein Vertragsschluss zu bejahen sei (BGH NJW 00, 3431 [BGH 09.05.2000 - VI ZR 173/99] für den Fall des weiteren Bezugs von Strom nach Kündigung des Bezugsvertrags; s aber auch BGH NJW 02, 817 [BGH 06.12.2001 - III ZR 296/00] und 02, 1945 [BGH 11.04.2002 - III ZR 37/01] für die Inanspruchnahme von Maklerdiensten nach der Erklärung, für einen Makler nichts zahlen zu wollen. Grüneberg/Ellenberger Einf v § 145 Rz 26; Staud/Bork Vor zu §§ 145–156 Rz 39; BeckOK/H.-W. Eckert § 145 Rz 45; Neuner AT § 37 Rz 47). Von der Gegenansicht wird auf die Perplexität des Verhaltens (Widerspruch von Tun und Erklärung) abgestellt, wenn die Erklärung vor oder bei Abnahme der Leistung erfolgte. Dieser Widerspruch führe zur Unwirksamkeit des Verhaltens insgesamt, dem damit kein Erklärungsgehalt zukomme, weshalb keine Annahme festzustellen sei (Jauernig/Mansel Vor § 145 Rz 20; i. Erg. auch Soergel/Riesenhuber Vor § 145 Rz 89). Eine vertragliche Bindung gegen den erklärten Willen lasse sich nicht mit der Privatautonomie vereinbaren und sei auch nicht erforderlich. Denn dem Anbieter stünden ggf Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung zu. Andere versuchen eine heteronom begründete Vertragsverbindlichkeit unter Rückgriff auf § 242 zu konstruieren (NK-BGB/Rademacher/G. Schulze Vor §§ 145 Rz 43).