Prof. Dr. Juliana Mörsdorf
1. Autonomes IPR.
Rn 14
Das deutsche Kollisionsrecht umfasst zum einen das autonome IPR, das grds unabhängig davon erlassen wird, ob und wie andere Staaten ihr IPR regeln. Es besteht neben dem zweiten Kapitel des ersten Teils des EGBGB (Art 3–46c) aus richterrechtlichem Gewohnheitsrecht (etwa das Kollisionsrecht der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung, s Vor Art 7–12 EGBGB Rn 6 ff, oder des Gesellschaftsrechts, BGH NJW 09, 291 [BGH 27.10.2008 - II ZR 158/06] m Anm Kieninger) ausf s.u. nach ex Art 37: IntGesR, für dessen gesetzliche Regelung im EGBGB das BMJ am 7.1.08 einen auf Vorarbeiten des Deutschen Rates für IPR basierenden Referentenentwurf vorgelegt hatte, der die umfassende Geltung des Gründungsstatuts bzw Anknüpfung an den Registrierungsort vorschreibt, dazu Kindler IPRax 09, 189; Wagner/Timm IPRax 08, 81) und aus einzelnen, in verschiedenen Gesetzen nach Sachzusammenhängen verstreuten Einzelnormen (zB Art 91 ff WG, 60 ff ScheckG, 61 BörsenG, §§ 130 II GWB, 335 ff InsO, 32b UrhG, 19 AnfG).
Rn 15
Die Gliederung des Kollisionsrechts im zweiten Kapitel des ersten Teils des EGBGB folgt mit den – ggü dem BGB aus Gründen der Entstehungsgeschichte des EGBGB (s.u. Rn 27) in ihrer Reihenfolge veränderten – Blöcken ›Recht der natürlichen Personen und Rechtsgeschäfte‹, ›Familienrecht‹, ›Erbrecht‹, ›Schuldrecht‹ (inzwischen weitestgehend verdrängt durch die VOen-ROM I u II) und ›Sachenrecht‹ der deutschen sachrechtlichen Systematik, was im Hinblick auf den nationalen Charakter der Materie und den Horizont des Rechtsanwenders sinnvoll ist, der entweder deutsch ist oder der nach einer Gesamtverweisung die Perspektive deutscher Gerichte oder Behörden einnimmt. Die Überschriften sind amtl.
2. IPR in EU-Normen.
a) Im Kontext von Sachrechtsvereinheitlichung.
Rn 16
Hinzu kommen – ebenfalls nach Sachzusammenhängen geordnet – vereinzelte europarechtliche Kollisionsnormen, die an das sachrechtsvereinheitlichende Verordnungsrecht angehängt sind, wie zB Art 2 I EWIV-VO (VO 2137/85/EWG, dazu Basedow NJW 96, 1926), Art 1 VO 295/91/EWG (vgl LG Frankfurt aM NJW-RR 98, 1589 [LG Frankfurt am Main 29.04.1998 - 2/1 S 45/96]) und Art 93 VO 1408/71/EWG idF von Anh I der VO 2001/83/EWG (vgl BGH NJW 04, 3111 [BGH 21.07.2004 - XII ZR 203/01]).
Rn 17
Auch soweit Sachrechtsvereinheitlichung durch europäische Richtlinien erfolgt, finden sich teilweise kollisionsrechtliche Vorgaben. Diese bedürfen der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Für sechs Verbraucherschutzrichtlinien findet sie sich in Art 46b, der unter redaktioneller Anpassung an Art 6 ROM I den Art 29a abgelöst hat. Kollisionsrechtliche Rechtsangleichung fordern außerdem ua (Nennung weiterer RL bei MüKo/Sonnenberger Einl Rz 187) Art 10 InsiderRL (03/6/EG); Art 2 I RL über audiovisuelle Mediendienste (89/552/EWG; 97/36/EG; 07/65/EG) sowie Art 1 EntsendeRL (96/71/EG), zu der von EuGH NJW 12, 137 [EuGH 25.10.2011 - Rs. C-509/09; C-161/10] – eDate Advertising (Folgeentscheidung: BGH NJW 12, 2197 [BGH 08.05.2012 - VI ZR 217/08]) verneinten Streitfrage, ob auch Art 3 I der e-commerce-RL (00/31/EG), umgesetzt in § 3 TMG, so zu verstehen ist, s 7. Aufl. Im Einzelfall hat der EuGH außerdem aus dem Umstand punktueller europäischer Rechtsharmonisierung auf Grundlage einer RL, ohne dass diese eine kollisionsrechtliche Bestimmung enthielt, dennoch eine unmittelbar anwendbare kollisionsrechtliche Aussage (nämlich die Durchsetzung des von der RL vorgeschriebenen Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters als Eingriffsnorm, dazu s.u. Rn 30) entwickelt (EuGH NJW 01, 2007 – Ingmar).
b) Eigenständige Kollisionsrechtsvereinheitlichung.
Rn 18
Seitdem die EU in Art 65 Buchst b EGV (Art 81 Buchst c AEUV) eine (beschränkte) kollisionsrechtliche Rechtssetzungskompetenz erhalten hat, sind sukzessive ganze Anknüpfungsgegenstände erfassende, unmittelbar anwendbare europäische Kollisionsnormen erlassen worden. Ausgenommen von dieser Kompetenz ist Dänemark, das auch nicht wie das Vereinigte Königreich und Irland vom opt-in Gebrauch macht (zur staatsvertraglichen Erstreckung einzelner EU-VOen auf Dänemark Nielsen IPRax 07, 506; R. Wagner in: Gottwald (Hrsg) Perspektiven der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen in der Europäischen Union, 2004, 257). Bereits die EuInsVO regelt neben Zuständigkeit und Anerkennung auch, welches Recht im Insolvenzverfahren anwendbar ist. Auf dem Gebiet des Internationalen Schuldrechts ist am 11.1.09 die sog ROM II zu außervertraglichen Schuldverhältnissen (Änderungsvorschlag bzgl Verjährungsfristen bei Verkehrsunfall KOM (2011) 274 endg S 11) in Kraft getreten, die als loi uniforme auch im Verhältnis zu Drittstaaten anwendbar ist (vgl Art 3 ROM II). Die autonome Regelung der außervertraglichen Schuldverhältnisse in Art 38 bis 42 EGBGB bleibt daneben nur noch hinsichtlich der in Art 1 II ROM II ausgenommenen Sachbereiche, namentlich Persönlichkeitsrechte und Kernenergie anwendbar, Art 40 III darüber hinaus zur Präzisierung des ordre pubic nach Art 26 ROM II. Die vertraglichen Schuldverhältnisse regelt, ebenfalls als loi uniforme, die sog ROM I, die seit 17.12.09 die Art 27–37 EGBGB und 7 ff EGVVG ersetzt. Im Verhält...