Prof. Dr. Juliana Mörsdorf
1. Depeçage.
Rn 33
Die Kollisionsnormen überantworten nicht einen Fall als ganzen einer bestimmten Rechtsordnung, sondern weisen jeweils einer bestimmten Rechtsfrage (Anknüpfungsgegenstand) eine bestimmte Rechtsordnung zu (›analytische Methode‹). Unterschiedliche Rechtsfragen eines einheitlichen Falles können mit unterschiedlichen Rechtsordnungen eng verbunden sein, was dazu führt, dass verschiedene Rechtsordnungen (sachlich) nebeneinander anwendbar sein können (›depeçage‹, zu der daraus folgenden Anpassungs- bzw Transpositionsproblematik s.u. Rn 60 bzw Rn 40). Je nach Zuschnitt des Anknüpfungsgegenstandes spricht man von Haupt- und Teilfrage bzw von Sonderanknüpfung. So ist die Geschäftsfähigkeit eine Teilfrage zur Hauptfrage der Wirksamkeit eines Schuldvertrages; denn gäbe es nicht die gesonderte Anknüpfung in Art 7, so würde diese Frage mit unter Art 3 ROM I mit seinem breiten Anknüpfungsgegenstand fallen; ähnl regeln auch Art 11 und 26 die Teilfrage der rechtsgeschäftlichen Form. Das für die Hauptfrage berufene Recht wird auch als ›Wirkungs‹- oder ›Geschäftsstatut‹ oder ›lex causae‹ bezeichnet. Zu einer Depeçage kann auch der Statutenwechsel (Rn 39 ff) führen, bei dem (zB wegen tats Veränderung des Anknüpfungspunktes, zB Lageort der Sache in Art 43) verschiedene Rechtsordnungen (zeitlich) nacheinander auf dieselbe Frage anwendbar sind.
2. Qualifikation.
Rn 34
Das Auffinden der anwendbaren Kollisionsnorm erfolgt durch Qualifikation der betreffenden Rechtsfrage. Mit der Qualifikation wird diese einem Anknüpfungsgegenstand zugeordnet. Es wird unter die passende Kollisionsnorm subsumiert. In einem ersten Schritt ist hierzu die Kollisionsnorm auszulegen, dh das von dem genannten Systembegriff (zB Geschäftsfähigkeit, Eheschließung, Güterstand, Adoption, Delikt) umfasste Bündel an Rechtsverhältnissen näher zu bestimmen. Da die Systembegriffe des EGBGB dem deutschen Sachrecht entlehnt sind (s.a. oben Rn 15), ist hierfür zunächst die lex fori maßgeblich (BGH FamRZ 96, 604; BGHZ 29, 139). Schon Institute des deutschen Rechts können aber bei der Einordnung Schwierigkeiten bereiten, klassisches Bsp war § 1371 I BGB, der sich ebenso gut dem Ehegüterrecht und damit ex Art 15 (so BGHZ 40, 34 f; Hamm IPRspr 95, Nr. 119; Karlsr NJW 90, 1421; LG Mosbach ZEV 98, 489) wie dem Erbrecht und damit Art 25 aF (Raape IPR, 336) zuordnen ließ; Ddorf IPRspr 87 Nr 105 wandte § 1371 I BGB nur an, wenn sowohl Güterrechts- als auch Erbstatut deutsches Recht sind (offengelassen Ddorf IPRax 09, 523 [OLG Düsseldorf 19.12.2008 - I -3 Wx 51/08] m Aufs Looschelders 505), der BGH (NJW 15, 2185 [BGH 13.05.2015 - IV ZB 30/14] m zust Aufs Lorenz 2157) entschied sich für die güterrechtliche Qualifikation, der seit der unionsrechtlichen Regelung der Materie (EuErbVO, EuGüVO, EuPartVO) zuständige EuGH qualifiziert erbrechtlich (C-558/16 Rs Mahnkopf). Sind hierzulande unbekannte Rechtsinstitute (zB Brautgabe, Legitimation des islamischen Rechts, Kafala, Trust) einzuordnen, so ist zunächst eine Funktionsanalyse des ausl Rechtsinstituts im Kontext der fremden Rechtsordnung vorzunehmen. Vermittels der hierdurch möglichen Abstraktion lässt sich die ausl Norm aus ihrem heimischen System herauslösen und fiktiv in unser System einfügen. Es sind also auslandsrechtliche Vorarbeiten und ein sich darauf stützender funktionaler Rechtsvergleich erforderlich. Maßgeblich bleibt die deutsche Systematik; die ausl systematische Zuordnung ist (im Gegensatz zum sachlichen Gehalt der ausl Norm) irrelevant (BGH NJW 60, 1720; RGZ 145, 126). Nach der Standardformel des BGH (Z 47, 332; 29, 139) sind: ›… die Vorschriften des ausl Rechts nach ihrem Sinn und Zweck zu erfassen, ihre Bedeutung vom Standpunkt des ausl Rechts zu würdigen und sie mit Einrichtungen der deutschen Rechtsordnung zu vergleichen. Auf der so gewonnenen Grundlage ist sie dem aus den Begriffen und Abgrenzungen der deutschen Rechtsordnung aufgebauten Merkmalen der deutschen Kollisionsnorm zuzuweisen.‹ Da jedes fremde Institut des Zivilrechts erfasst werden muss, sind die Kollisionsnormen weit auszulegen (BGHZ 47, 336), ggf ist eine Analogie zu entwickeln. Soweit mehrere in Betracht kommende Kollisionsnormen im Einzelfall zum selben Recht führen, kann die Qualifikationsfrage offen bleiben (s.o. Rn 28).
Rn 35
Stellt sich die Qualifikationsfrage in Bezug auf staatsvertragliches Kollisionsrecht, so ist sie – bei ebenfalls grds Maßgeblichkeit der lex fori – im Interesse der einheitlichen Anwendung aufgrund von Entstehungsgeschichte und Zweck des Abk unter vergleichender Heranziehung der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten zu beantworten (autonome Qualifikation, als Fall der autonomen Auslegung, zu Letzterer s.o. Rn 21) (Grüneberg/Thorn Einl v Art 3 Rz 28). Das gilt auch für die in das EGBGB inkorporierten staatsvertraglichen Normen wie Art 11 (s dort Rn 2). IRd kollisionsrechtlichen EU-VOen (ROM I, II, III, EuUnthVO, EuErbVO, EuGüVO, EuPartVO) obliegt die Qualifikation als Auslegungsfrage dem EuGH (Vorlage nach Art 267 AEUV).