Prof. Dr. Juliana Mörsdorf
I. Als Grundsatz.
Rn 2
Verweist eine deutsche Kollisionsnorm auf ausl Recht, so liegt darin nach I 1 stets eine auch das fremde IPR umfassende Gesamtverweisung, es sei denn, dass eine der von Art 4 selbst genannten oder außerhalb der Norm vorzufindenden Ausnahmen (s.u. Rn 9 ff) vorliegt. Als Grund hierfür wird herkömmlich das Streben nach internationalem Entscheidungseinklang genannt, auch wenn dieser sich ohnehin letztlich kaum erreichen lässt, weil die meisten ausl Rechtsordnungen ihrerseits vom Grundsatz der Gesamtverweisung ausgehen und die Rechtsanwendung durch in- und ausl Gerichte sich damit im Erg häufig gerade nicht entspricht, sondern spiegelverkehrt zueinander verhält (s.u. Rn 4). Tragfähiger erscheint die Begründung, wonach es aus Sicht des deutschen Kollisionsrechts inkonsequent wäre, eine bestimmte Rechtsordnung zu berufen und damit den Schwerpunkt des Sachverhalts dort anzusiedeln, ohne zugleich dieser Rechtsordnung aufgrund deren größeren Sachnähe auch selbst eine Mitsprache bei der Bestimmung des räumlichen Schwerpunkts des Falles einzuräumen. Die dem IPR zugrunde liegende räumliche ›Relativität der Gerechtigkeit‹ schlägt sich in der ›Relativität der Anknüpfungsentscheidung‹ des eigenen IPR nieder (Looschelders Rz 5; Lurger ZfRV 95, 184).
II. Konsequenzen.
1. Überblick.
Rn 3
Eine Gesamtverweisung hat drei denkbare Konsequenzen: Entweder kommen die Kollisionsnormen der Zielrechtsordnung zu demselben Erg wie diejenigen der Ausgangsrechtsordnung, dass nämlich dieses Zielrecht anwendbar sei (sog Annahme der Verweisung), oder zu dem Erg, dass die Ausgangsrechtsordnung (lex fori) selbst anwendbar sei (Rückverweisung/Renvoi), oder zu dem Erg, dass eine bestimmte dritte Rechtsordnung anwendbar sei (Weiterverweisung). Teilweise wird ›Renvoi‹ auch als Oberbegriff für Rück- und Weiterverweisung verwandt. Zum Respekt der ausl Anknüpfung im Falle der Gesamtverweisung gehört ua die Beachtung deren eigener Haltung zur Wandelbarkeit, auch wenn es dadurch zur Sprengung der deutschen Unwandelbarkeitsvorstellung kommt (Hamm NJW-RR 10, 1091; KG FamRZ 07, 1564; Staud/Mankowski Art 15 Rz 51; MüKO/Siehr Art 15 Rz 125; BeckOK/Mörsdorf Art 15 Rz 82; aA Nürnbg FamRZ 11, 1509 m abl Anm Henrich IPRax 12, 263; Grüneberg/Thorn Art 5 Rz 3). Ob iRd Anwendung ausl Kollisionsrechts auch ausl ordre-public-Klauseln anzuwenden sind, ist umstr (s Art 6 EGBGB Rn 3).
2. Verweisungsketten.
Rn 4
Dem Grundsatz der authentischen Anwendung fremden Rechts (Art 3 EGBGB Rn 57) entspr bleibt dem berufenen Recht überlassen, ob eine Weiterverweisung ihrerseits Gesamtverweisung ist (BayObLG IPRspr 72 Nr 128; LG Augsburg IPRspr 72 Nr 89; LG Bochum IPRspr 58/59 Nr 147; v Hoffmann/Thorn § 6 Rz 104; Kegel/Schurig § 10 IV 3; Looschelders Rz 12; v Bar/Mankowski IPR I, § 7 Rz 222 ff; Soergel/Kegel Rz 19; Staud/Hausmann Rz 55; aA RGZ 64, 389 ff, 94; AG Kaufbeuren IPRax 84, 221; Kropholler § 24 II 4; Staud/Dörner Art 25 Rz 641: stets Sachnormverweisung). So kann es zu einer Kette mehrerer anzuwendender Rechtsordnungen kommen. Für die Rückverweisung gilt im Prinzip nichts anderes, doch würde die ausl Gesamtverweisung hier zu einem Zirkelschluss führen. Dieser wird durch I 2 im Interesse zügiger und richtiger Rechtsanwendung so unterbrochen, dass deutsches Recht zur Anwendung kommt (Frankf FamRBInt 08, 52 m Bespr Stößer; Ddorf NJW-RR 09, 1515), in dem der deutsche Richter geschult ist (BTDrs 10/504, 37; Kegel/Schurig § 10 III 3). Eine ähnliche Situation kann bei der Weiterverweisung entstehen, wenn die Kette der anzuwendenden Rechte in eine Schlaufe mündet, in der ein Recht auf das andere und dieses wiederum auf das eine verweist. Wo hier abzubrechen ist, ist umstr. Handelt es sich bei dem Recht am Ausgangspunkt der Schlaufe um das deutsche Recht, ist wiederum I 2 anzuwenden (MüKo/Sonnenberger Rz 36: direkte Anwendung; Looschelders Rz 13: Analogie). Erscheint ein anderes Recht zum zweiten Mal in der Kette, ist nach einer Ansicht ebenfalls ein Abbruch geboten und dessen Sachrecht anzuwenden (Palandt/Heldrich 67. Aufl Rz 3; BeckOK/Lorenz Rz 15; AnwK/Freitag Rz 7; Looschelders Rz 13; vorsichtig auch MüKo/Sonnenberger Rz 36), während andere im Interesse des ursprünglich angestrebten internationalen Entscheidungseinklangs mit der erstberufenen Rechtsordnung (›foreign court theory‹) das von deren IPR berufene Recht anwenden wollen (Grüneberg/Thorn Rz 3; Staud/Hausmann Rz 56, Kegel/Schurig § 10 IV 3; v Bar/Mankowski IPR I, § 7 Rz 224, Soergel/Kegel Rz 19; Lüderitz Rz 163), ausf Michaels RabelsZ 61 (1997) 685. Keine Rückverweisung, sondern Annahme der Verweisung spricht Art 91 I schweiz IPRG aus (Sturm NJW 10, 3417 aE; aA BayObLG IPRspr 01 Nr 111).
3. Abweichende Qualifikation im Ausland.
Rn 5
Da das fremde Recht so anzuwenden ist, wie der ausl Richter es anwenden würde, wenn er zu entscheiden hätte, ist bei einer Gesamtverweisung darauf zu achten, dass Unterschiede in der Qualifikation bestehen können. So werden etwa Ansprüche wegen Verlöbnisbruchs in Deutschland familienrechtlich (BGH IPRax 05, 546 [BGH 13.04.2005 - XII ZR 296/00]; Heimatrecht des Anspruchgegners), in Fra...