Prof. Dr. Juliana Mörsdorf
1. Überblick.
Rn 3
Eine Gesamtverweisung hat drei denkbare Konsequenzen: Entweder kommen die Kollisionsnormen der Zielrechtsordnung zu demselben Erg wie diejenigen der Ausgangsrechtsordnung, dass nämlich dieses Zielrecht anwendbar sei (sog Annahme der Verweisung), oder zu dem Erg, dass die Ausgangsrechtsordnung (lex fori) selbst anwendbar sei (Rückverweisung/Renvoi), oder zu dem Erg, dass eine bestimmte dritte Rechtsordnung anwendbar sei (Weiterverweisung). Teilweise wird ›Renvoi‹ auch als Oberbegriff für Rück- und Weiterverweisung verwandt. Zum Respekt der ausl Anknüpfung im Falle der Gesamtverweisung gehört ua die Beachtung deren eigener Haltung zur Wandelbarkeit, auch wenn es dadurch zur Sprengung der deutschen Unwandelbarkeitsvorstellung kommt (Hamm NJW-RR 10, 1091; KG FamRZ 07, 1564; Staud/Mankowski Art 15 Rz 51; MüKO/Siehr Art 15 Rz 125; BeckOK/Mörsdorf Art 15 Rz 82; aA Nürnbg FamRZ 11, 1509 m abl Anm Henrich IPRax 12, 263; Grüneberg/Thorn Art 5 Rz 3). Ob iRd Anwendung ausl Kollisionsrechts auch ausl ordre-public-Klauseln anzuwenden sind, ist umstr (s Art 6 EGBGB Rn 3).
2. Verweisungsketten.
Rn 4
Dem Grundsatz der authentischen Anwendung fremden Rechts (Art 3 EGBGB Rn 57) entspr bleibt dem berufenen Recht überlassen, ob eine Weiterverweisung ihrerseits Gesamtverweisung ist (BayObLG IPRspr 72 Nr 128; LG Augsburg IPRspr 72 Nr 89; LG Bochum IPRspr 58/59 Nr 147; v Hoffmann/Thorn § 6 Rz 104; Kegel/Schurig § 10 IV 3; Looschelders Rz 12; v Bar/Mankowski IPR I, § 7 Rz 222 ff; Soergel/Kegel Rz 19; Staud/Hausmann Rz 55; aA RGZ 64, 389 ff, 94; AG Kaufbeuren IPRax 84, 221; Kropholler § 24 II 4; Staud/Dörner Art 25 Rz 641: stets Sachnormverweisung). So kann es zu einer Kette mehrerer anzuwendender Rechtsordnungen kommen. Für die Rückverweisung gilt im Prinzip nichts anderes, doch würde die ausl Gesamtverweisung hier zu einem Zirkelschluss führen. Dieser wird durch I 2 im Interesse zügiger und richtiger Rechtsanwendung so unterbrochen, dass deutsches Recht zur Anwendung kommt (Frankf FamRBInt 08, 52 m Bespr Stößer; Ddorf NJW-RR 09, 1515), in dem der deutsche Richter geschult ist (BTDrs 10/504, 37; Kegel/Schurig § 10 III 3). Eine ähnliche Situation kann bei der Weiterverweisung entstehen, wenn die Kette der anzuwendenden Rechte in eine Schlaufe mündet, in der ein Recht auf das andere und dieses wiederum auf das eine verweist. Wo hier abzubrechen ist, ist umstr. Handelt es sich bei dem Recht am Ausgangspunkt der Schlaufe um das deutsche Recht, ist wiederum I 2 anzuwenden (MüKo/Sonnenberger Rz 36: direkte Anwendung; Looschelders Rz 13: Analogie). Erscheint ein anderes Recht zum zweiten Mal in der Kette, ist nach einer Ansicht ebenfalls ein Abbruch geboten und dessen Sachrecht anzuwenden (Palandt/Heldrich 67. Aufl Rz 3; BeckOK/Lorenz Rz 15; AnwK/Freitag Rz 7; Looschelders Rz 13; vorsichtig auch MüKo/Sonnenberger Rz 36), während andere im Interesse des ursprünglich angestrebten internationalen Entscheidungseinklangs mit der erstberufenen Rechtsordnung (›foreign court theory‹) das von deren IPR berufene Recht anwenden wollen (Grüneberg/Thorn Rz 3; Staud/Hausmann Rz 56, Kegel/Schurig § 10 IV 3; v Bar/Mankowski IPR I, § 7 Rz 224, Soergel/Kegel Rz 19; Lüderitz Rz 163), ausf Michaels RabelsZ 61 (1997) 685. Keine Rückverweisung, sondern Annahme der Verweisung spricht Art 91 I schweiz IPRG aus (Sturm NJW 10, 3417 aE; aA BayObLG IPRspr 01 Nr 111).
3. Abweichende Qualifikation im Ausland.
Rn 5
Da das fremde Recht so anzuwenden ist, wie der ausl Richter es anwenden würde, wenn er zu entscheiden hätte, ist bei einer Gesamtverweisung darauf zu achten, dass Unterschiede in der Qualifikation bestehen können. So werden etwa Ansprüche wegen Verlöbnisbruchs in Deutschland familienrechtlich (BGH IPRax 05, 546 [BGH 13.04.2005 - XII ZR 296/00]; Heimatrecht des Anspruchgegners), in Frankreich hingegen deliktsrechtlich qualifiziert. Leben verlobte Franzosen in Deutschland und kommt es hier zu einem Verlöbnisbruch, so liegt aufgrund der französischen deliktsrechtlichen Qualifikation eine Rückverweisung vor (Staud/Mankowski Anh Art 13 Rz 35 ff). Ebenso kann es durch die türkische scheidungsrechtliche Qualifikation der Frage der nachehelichen Namensführung einer Türkin zur Rückverweisung auf deutsches Namensrecht kommen (BGH IPRax 08, 137 [BGH 20.06.2007 - XII ZB 17/04] m Anm Henrich 121), was aber dann nicht der Fall ist, wenn türkisches IPR für die Wirkungen der Scheidung türkisches Sachrecht beruft, weil beide Ehegatten türkische Staatsangehörige sind (AG Regensburg BeckRS 21, 39868). Man spricht auch von ›Renvoi kraft abweichender Qualifikation‹. Kein Fall der abw Qualifikation liegt nach einer Ansicht vor, wenn das berufene Recht die Frage von vornherein völlig anders regelt, zB prozessual einstuft, wie anglo-amerikanische Jurisdiktionen dies mit Aufrechnung und Verjährung handhaben; denn dann sei der dortige Normenkomplex einschließlich seiner Kollisionsnormen wegen Fehlens funktioneller Kongruenz erst gar nicht von der deutschen Kollisionsnorm berufen (MüKo/Sonnenberger Rz 39 f; Looschelders Rz 10; Soergel/Lüderitz...