Prof. Dr. Juliana Mörsdorf
Gesetzestext
(1) 1Wird auf das Recht eines anderen Staates verwiesen, so ist auch dessen Internationales Privatrecht anzuwenden, sofern dies nicht dem Sinn der Verweisung widerspricht. 2Verweist das Recht des anderen Staates auf deutsches Recht zurück, so sind die deutschen Sachvorschriften anzuwenden.
(2) 1Verweisungen auf Sachvorschriften beziehen sich auf die Rechtsnormen der maßgebenden Rechtsordnung unter Ausschluss derjenigen des Internationalen Privatrechts. 2Soweit die Parteien das Recht eines Staates wählen können, können sie nur auf die Sachvorschriften verweisen.
(3) 1Wird auf das Recht eines Staates mit mehreren Teilrechtsordnungen verwiesen, ohne die maßgebende zu bezeichnen, so bestimmt das Recht dieses Staates, welche Teilrechtsordnung anzuwenden ist. 2Fehlt eine solche Regelung, so ist die Teilrechtsordnung anzuwenden, mit welcher der Sachverhalt am engsten verbunden ist.
A. Einführung.
Rn 1
Art 4 ist eine Hilfsnorm. Sie regelt Einzelheiten zum Ziel der Verweisung: Steht aufgrund der anwendbaren Kollisionsnorm fest, welchen Staates Recht anzuwenden ist, so stellt sich die Frage, ob für die Beantwortung der betreffenden Rechtsfrage auf das berufene Recht in seiner Gesamtheit oder nur auf einen bestimmten Ausschnitt zurückzugreifen ist. Zwar kommt von vornherein nur das Zivilrecht in Betracht (s.o. Art 3 EGBGB Rn 13). In Fällen mit Auslandsbezug hängt die materiell-rechtliche Beantwortung einer zivilrechtlichen Frage aber außer von den die Rechtsfrage selbst inhaltlich beantwortenden ›Sachvorschriften‹ (Art 3a I) stets auch von kollisionsrechtlichen Regelungen ab. Daher ist grds auch innerhalb der Rechtsordnung, auf die verwiesen worden ist, das dortige IPR zu beachten, zumal ausl Recht von deutschen Gerichten ebenso angewandt werden soll, wie von Gerichten in dem betreffenden Lande (s.o. Art 3 EGBGB Rn 57), die bei Fällen mit Auslandsbezug ihrerseits vom (eigenen) IPR ausgehen würden. Diesem Anliegen des sog internationalen Entscheidungseinklangs entspr, ordnet I als Grundsatz die sog Gesamtverweisung an. I 1 Hs 2 u II formulieren Ausnahmen, sog Sachnormverweisungen. Im Anwendungsbereich der die meisten Fälle des internationalen Schuldrechts regelnden ROM-VOen gilt umgekehrt der Grundsatz der Sachnormverweisung (Art 20 ROM I, Art 24 ROM II, Art 11 ROM III). III behandelt eine weitere mögliche kollisionsrechtliche Fragestellung in der Zielrechtsordnung: Besteht dort räumliche oder personale Rechtsspaltung, so stellt sich die Frage, nach welchen interlokalen oder interpersonalen Regeln die anwendbare Teilrechtsordnung zu ermitteln ist (sog Unteranknüpfung). Ggü III vorrangige spezielle Regelung für das internationale Schuldrecht enthalten Art 22 I ROM I, 25 I ROM II und ex Art 35 II sowie Art 14 f ROM III.
B. Gesamtverweisung.
I. Als Grundsatz.
Rn 2
Verweist eine deutsche Kollisionsnorm auf ausl Recht, so liegt darin nach I 1 stets eine auch das fremde IPR umfassende Gesamtverweisung, es sei denn, dass eine der von Art 4 selbst genannten oder außerhalb der Norm vorzufindenden Ausnahmen (s.u. Rn 9 ff) vorliegt. Als Grund hierfür wird herkömmlich das Streben nach internationalem Entscheidungseinklang genannt, auch wenn dieser sich ohnehin letztlich kaum erreichen lässt, weil die meisten ausl Rechtsordnungen ihrerseits vom Grundsatz der Gesamtverweisung ausgehen und die Rechtsanwendung durch in- und ausl Gerichte sich damit im Erg häufig gerade nicht entspricht, sondern spiegelverkehrt zueinander verhält (s.u. Rn 4). Tragfähiger erscheint die Begründung, wonach es aus Sicht des deutschen Kollisionsrechts inkonsequent wäre, eine bestimmte Rechtsordnung zu berufen und damit den Schwerpunkt des Sachverhalts dort anzusiedeln, ohne zugleich dieser Rechtsordnung aufgrund deren größeren Sachnähe auch selbst eine Mitsprache bei der Bestimmung des räumlichen Schwerpunkts des Falles einzuräumen. Die dem IPR zugrunde liegende räumliche ›Relativität der Gerechtigkeit‹ schlägt sich in der ›Relativität der Anknüpfungsentscheidung‹ des eigenen IPR nieder (Looschelders Rz 5; Lurger ZfRV 95, 184).
II. Konsequenzen.
1. Überblick.
Rn 3
Eine Gesamtverweisung hat drei denkbare Konsequenzen: Entweder kommen die Kollisionsnormen der Zielrechtsordnung zu demselben Erg wie diejenigen der Ausgangsrechtsordnung, dass nämlich dieses Zielrecht anwendbar sei (sog Annahme der Verweisung), oder zu dem Erg, dass die Ausgangsrechtsordnung (lex fori) selbst anwendbar sei (Rückverweisung/Renvoi), oder zu dem Erg, dass eine bestimmte dritte Rechtsordnung anwendbar sei (Weiterverweisung). Teilweise wird ›Renvoi‹ auch als Oberbegriff für Rück- und Weiterverweisung verwandt. Zum Respekt der ausl Anknüpfung im Falle der Gesamtverweisung gehört ua die Beachtung deren eigener Haltung zur Wandelbarkeit, auch wenn es dadurch zur Sprengung der deutschen Unwandelbarkeitsvorstellung kommt (Hamm NJW-RR 10, 1091; KG FamRZ 07, 1564; Staud/Mankowski Art 15 Rz 51; MüKO/Siehr Art 15 Rz 125; BeckOK/Mörsdorf Art 15 Rz 82; aA Nürnbg FamRZ 11, 1509 m abl Anm Henrich IPRax 12, 263; Grüneberg/Thorn Art 5 Rz 3). Ob iRd Anwendung ausl Kollisionsrechts auch ausl ...