Prof. Dr. Juliana Mörsdorf
Rn 1
Art 6 schreibt vor, dass die Ergebnisse von Auslandsrechtsanwendung generell noch einer letzten Überprüfung bedürfen. Diese Überprüfung erfolgt anhand des deutschen op und findet erst nach Abschluss der kollisions- und sachrechtlichen Rechtsanwendung statt, die insb etwaige Notwendigkeiten einer Anpassung (dazu s.o. Art 3 EGBGB Rn 60 f) bereits einschließt (Saarbr OLGZ 65, 366; Grüneberg/Thorn Rz 5; Looschelders Rz 12 – Vorrang der Anpassung). Nach Art 21 ROM I, 26 ROM II, 12 ROM III, 35 EuErbVO, 31 EuGüVO, 31 EuPartVO ist auch im Anwendungsbereich dieser VOen der op des Staates des angerufenen Gerichts zu beachten, so dass das vertragliche und außervertragliche IPR auch weiterhin wie die anderen Rechtsgebiete ungeschmälert dem Vorbehalt des deutschen op unterliegen. Maßstab sind die wesentlichen Grundsätze des deutschen Rechts, die sich insb in den Grundrechten niederschlagen. Die zunächst unbesehene Anwendung ausl Rechtsnormen erfolgt unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit des Verweisungsergebnisses mit der nicht nur intern, sondern international unverzichtbaren inländischen öffentlichen Ordnung, die als op bezeichnet wird (Niemeyer Das internationale Privatrecht des BGB, 1901, S 96; Savigny System des heutigen Römischen Rechts Bd I–VIII, 1814–49, 2. Neudruck 1981, 32). Art 6 wird daher auch als ›allg Vorbehaltsklausel‹ bezeichnet. Er bildet das Korrektiv zu den internationalprivatrechtlichen Kollisionsnormen, die selbst nicht auf den materiell-rechtlichen Inhalt des ausl Rechts blicken (MüKo/Sonnenberger Rz 2). Art 6 soll verhindern, dass der deutsche Rechtsanwender aus deutscher Sicht völlig unannehmbare Vorstellungen eines ausl Gesetzgebers im Wege ihrer Durchsetzung in Deutschland in soziale Realität umsetzen muss (v Bar/Mankowski IPR I, § 7 Rz 265 mwN). Diese Umsetzung ist umso untragbarer, je intensiver die Inlandsbeziehung des Falles ist (BGH NJW 07, 900; BGHZ 118, 349; 28, 385; MüKo/Sonnenberger 79 ff; Grüneberg/Thorn Rz 6; Soergel/Kegel Rz 7; v Hoffmann/Thorn § 6 Rz 152; Kegel/Schurig § 16 III 2b; ausf unten Rn 15 ff), was daher neben der Abweichung des Erg von deutschen Rechtsgrundsätzen anerkanntermaßen die zweite wichtige Voraussetzung der ordrepublic-Prüfung darstellt – wenn auch der Gesetzgeber versäumt hat, dies ausdrücklich in den Tatbestand aufzunehmen. Die Wesentlichkeit der Grundsätze, die Erheblichkeit der Abweichung und das Ausmaß der Inlandsbeziehung stehen gleichsam in einem beweglichen System zueinander. Damit durch ein überstarkes Korrektiv nicht die, auf dem Axiom der Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen beruhende Idee des IPR ausgehöhlt wird, darf von der Verwerfung nach Art 6 nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden; darauf weist der Gesetzestext mit der Forderung ›offensichtlicher‹ Unvereinbarkeit hin (ähnl Grüneberg/Thorn Rz 4; Looschelders Rz 10, 17). Ein offensichtlicher Verstoß liegt vor, ›wenn das Erg der Anwendung in einer besonders schwerwiegenden Weise dem Sinn und Zweck der deutschen Regelung widerspricht‹ (BGHZ 50, 375; 75, 43, ähnl 104, 243).
Rn 2
Das EGBGB kennt daneben eine Reihe spezieller Vorbehaltsklauseln, die gewisse Verstöße gegen den op typisieren, indem sie idR zum einen den wesentlichen Grundsatz benennen und festlegen und zum anderen konkretisieren, wann eine ausreichende Inlandsbeziehung gegeben ist. Einen Rückgriff auf die allg Vorbehaltsklausel des Art 6 für ähnl gelagerte Fälle schließen sie nicht aus (Grüneberg/Thorn Rz 10, Erman/Hohloch Rz 10). Beispiele sind Art 13 II, III 1, 17 I 2, II, 17b IV u 40 III. Dabei dürfte die deliktische Vorbehaltsklausel des Art 40 III nach Inkrafttreten der ROM II auch zur Ausfüllung bzw Konkretisierung der Vorbehaltsklausel des Art 26 ROM II zugunsten des op des Forumstaates iVm Erwägungsgrund 32 Bedeutung haben. Die zunächst vorgesehene gemeinschaftliche spezielle Vorbehaltsklausel des Art 24 aF ROM II ist gestrichen worden (dazu Mörsdorf-Schulte ZVglRWiss 05, 192; zu einem europäischen op s.u. Rn 10). Entspr muss für die autonomen scheidungsrechtlichen Vorbehaltsklauseln im Hinblick auf Art 12 ROM III gelten.
Rn 3
Ausl Vorbehaltsklauseln werden iRe Gesamtverweisung überwiegend für anwendbar gehalten (Frankf IPRax 91, 403 [OLG Frankfurt am Main 24.04.1990 - 5 U 18/88]; Karlsr FamRZ 70, 253; LG Hannover FamRZ 69, 669 f; Grüneberg/Thorn Rz 6; Kegel/Schurig § 10 VI; Looschelders Rz 14, Raape/Sturm 220 f; aA BeckOK/Lorenz Rz 18; K. Müller RabelsZ 36 (1972) 68). Dies erscheint zwar im Hinblick auf den Gedanken des Vorbehalts und des internationalen Entscheidungseinklangs konsequent. Im Hinblick auf die Nähe des Eingreifens des Vorbehalts zur Tätigkeit des Gerichts als Staatsorgan, die nur bei dem tatsächlichen Forum, nicht aber dem hypothetisch mit dem Fall befassten ausl, ohnehin möglicherweise gar nicht zuständigen Gericht vorliegt, ist die Anwendung ausl Vorbehaltsklauseln indes entbehrlich. Sie widerspricht außerdem dem Umstand, dass nach dem Gesetzestext nur das Erg Gegenstand der Überprüfung ist, nicht aber die ...