Zusammenfassung
Art 15 KSÜ(1) Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit nach Kapitel II wenden die Behörden der Vertragsstaaten ihr eigenes Recht an.
(2) Soweit es der Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes erfordert, können sie jedoch ausnahmsweise das Recht eines anderen Staates anwenden oder berücksichtigen, zu dem der Sachverhalt eine enge Verbindung hat.
(3) Wechselt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einen anderen Vertragsstaat, so bestimmt das Recht dieses anderen Staates vom Zeitpunkt des Wechsels an die Bedingungen, unter denen die im Staat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts getroffenen Maßnahmen angewendet werden.
A. Anwendbares Recht (Abs 1).
Rn 1
Die Art 15 ff bestimmen das auf Schutzmaßnahmen anwendbare Recht. Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit nach Art 5–14 wenden die Behörden der Vertragsstaaten ihr eigenes Recht an (I). Es gilt somit der Gleichlaufgrundsatz zwischen Zuständigkeit u anwendbarem Recht (Junker IPR § 19 Rz 42; Staud/Pirrung [18] Vorbem Art 19 EGBGB Rz D 100f); die lex fori ist anzuwenden (MüKo/Staudinger Rz 3). Das gilt etwa für einen Umgangsausschluss (KG NZFam 21, 218), auch für die materiellen Voraussetzungen einer gerichtlichen Genehmigung (Kobl FamRZ 19, 367 m Aufs Looschelders IPRax 19, 539 [Erbausschlagung]; Hamm IPRax 22, 642 m Aufs Benicke/Suchocki, 603 [Erbausschlagung]; Schäuble BWNotZ 16, 5, 12f). Die Zuständigkeit ergibt sich regelmäßig aus dem gewöhnl Aufenthalt, in einigen Fällen auch aus dem bloßen Aufenthalt des Kindes (vgl Art 5, 6); auch für Angehörige von Nichtvertragsstaaten (Nürnbg FamRZ 21, 600, 604; Rieländer NZFam 23, 1057, 1065). Auch ein Flüchtlingskind kann inländischen gewöhnl Aufenthalt begründen (Bambg FamRZ 16, 1270 Anm Mankowski = StAZ 16, 270 m Aufs Coester, 257: acht Monate; Erb-Klünemann/Kößler FamRB 16, 160, 161f). Art 7 kann ebenfalls Grundlage sein (Karlsr FamRZ 18, 920 m Anm Rake). Im Scheidungsverfahren kommt es nicht auf das für die Scheidung maßgebliche Recht, sondern unmittelbar auf das innerstaatliche (Sach-)Recht des Scheidungsstaates an; vgl Art 10 (Staud/Pirrung [18] Vorbem Art 19 EGBGB Rz D 101).
Rn 2
Die differenzierte Regelung des KSÜ kommt auch dann zur Anwendung, wenn die internationale Zuständigkeit nicht nach dem Üb, sondern nach der vorrangigen Brüssel IIb-VO bestimmt worden ist (vgl BGH NJW 18, 613; Bambg FamRZ 16, 1270; Hamm IPRax 22, 642 m Aufs Benicke/Suchocki, 603; Grüneberg/Thorn Anh Art 24 EGBGB Rz 21). Eine aA wollte dagegen, jedenfalls dann, wenn eine Zuständigkeit lediglich nach der Brüssel IIa-VO bestand, Art 21 EGBGB anwenden (Rauscher/Rauscher Brüssel IIa-VO Art 8 Rz 21 ff. – Unentschieden Karlsr FamRZ 13, 1238 m Aufs Heiderhoff IPRax 15, 326).
B. Ausweichklausel (Abs 2).
Rn 3
Soweit es der Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes erfordert, kann ausnahmsweise das Recht eines anderen Staates angewendet oder berücksichtigt werden, zu dem der Sachverhalt eine enge Verbindung hat (II). Es handelt sich um eine allg Ausweichklausel (Staud/Pirrung [18] Vorbem Art 19 EGBGB Rz D 102), die auch zu drittstaatlichem Recht führen kann (Grüneberg/Thorn Anh Art 24 EGBGB Rz 19). Die engere Verbindung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. In Betracht kommt etwa ein Wechsel des Aufenthalts bei bevorstehender Rückkehr in den Heimatstaat (Staud/Pirrung [18] Vorbem Art 19 EGBGB Rz D 104). An die Erforderlichkeit ist ein strenger Maßstab anzulegen (Staud/Pirrung [18] Vorbem Art 19 EGBGB Rz D 103). Die polnische Praxis, in jedem Fall die gerichtliche Genehmigung der Erbausschlagung eines Kindes zu verlangen, stellt einen Anwendungsfall dieser Regelung dar (Kobl FamRZ 19, 367 m Aufs Looschelders IPRax 19, 539). Das poln Recht wird jedoch nicht auf die Genehmigung als solche angewendet, sondern nur für die Genehmigungsbedürftigkeit ›berücksichtigt‹ (Hamm ZEV 20, 621 = IPRax 22, 642 m Aufs Benicke/Suchocki 603; Saarbr ZEV 20, 624 [OLG Hamm 04.05.2020 - 13 WF 66/20]). Auch die österr pflegschaftsgerichtl Genehmigung wird erfasst (Köln IPRax 23, 490 [OLG Köln 23.03.2021 - 21 UF 8/21] m Aufs Garber/Rudolf 461).
C. Aufenthaltswechsel (Abs 3).
Rn 4
Wechselt der gewöhnl Aufenthalt des Kindes in einen anderen Vertragsstaat, so bestimmt das Recht dieses anderen Staates vom Zeitpunkt des Wechsels an die Bedingungen, unter denen die im Staat des früheren gewöhnl Aufenthalts getroffenen Maßnahmen angewendet werden (Art 15 III). Bei Wechsel in einen Drittstaat gilt die Bestimmung nicht (Staud/Pirrung Vorbem [18] Art 19 EGBGB Rz D 105).