I. Maßstab.
Rn 2
Maßstab für die Fehlerhaftigkeit des Produkts sind die berechtigten Sicherheitserwartungen. Sie werden durch die nicht abschließende Aufzählung in § 3 I lit a–c konkretisiert und sind unter Bezugnahme auf die voraussichtlichen Benutzer des Produkts (sofern es sich hier um eine von der Allgemeinheit abgrenzbare Gruppe handelt, zB wenn die Werbung Minderjährige besonders anspricht, BGH NJW 09, 1669 Rz 7; 23, 3159 Rz 24; LG Flensburg VersR 98, 66, 67, bei Produkten für Heimwerker, BGH NJW 13, 1302 Rz 12, bei Produkttests, Leichsenring PHI 11, 130, 132 oder bei medizinischen Produkten, die auch für Risikogruppen gedacht sind, Karlsr BeckRS 20, 15041), sonst für die Allgemeinheit insgesamt (Hamm OLGR 00, 248; Köln NJW 06, 2272 [OLG Köln 06.04.2006 - 3 U 184/05]; zu Fahrassistenzsystemen Anders PHI 09, 230 ff; Voland/Conradi/Qiu/Schuck RAW 19, 75, 84 ff: Orientierung an § 1a II StVG; Rosenberger Die außervertragliche Haftung für automatisierte Fahrzeuge 22, 308 ff; Preuß Haftungsrecht beim Einsatz hoch- und vollautomatisierter sowie vollautonomer Fahrzeuge 21, 167 ff; zu Medizinprodukten Dahm-Loraing/Koyuncu PHI 10, 108, 110 ff; zu KI-basierten Medizinprodukten Haftenberger Die Produkthaftung für künstlich intelligente Medizinprodukte. Eine Analyse der Anwendbarkeit und Eignung der europäischen Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG 23, 189 ff) objektiv zu bestimmen (BGH NJW 09, 1669 [BGH 17.03.2009 - VI ZR 176/08] Rz 6; 13, 1302 Rz 12; BGHZ 200, 242 Rz 8; Staud/Oechsler § 3 Rz 15 ff; MüKo/Wagner § 3 Rz 6 ff; NK-BGB/Katzenmeier § 3 Rz 2, alle mwN). Bei technischen Neuentwicklungen, insb bei autonomen Systemen, ist allerdings bereits der Rekurs auf die berechtigten Sicherheitserwartungen problematisch, weil solche Erwartungen sich teilweise erst noch entwickeln müssen (s.a. Joggerst/Wendt InTeR 21, 13, 15) und Künstliche Intelligenz zudem anders handeln und reagieren kann als Menschen (dazu zB Müller-Hengstenberg/Kirn MMR 21, 376, 379, s.a. unten Rn 6). Nach neuerer Rspr des EuGH kann bereits eine bestimmte Fehlerwahrscheinlichkeit, welche einen Austausch des Produkts (zB Herzschrittmacher) erfordert, als Fehler eingeordnet werden (EuGH NJW 15, 1163 Rz 43, Vorlagen des BGH: VersR 13, 1450; 1451; zust zum EuGH insb G Wagner JZ 16, 292, 294 ff; s.a. Liebold ZMGR 13, 222, 226; Handorn PHI 11, 206, 209 f; Kort FS Gassner 22, 173, 177 f; Taeger in Ehring/Taeger Produkthaftungs- und Produktsicherheitsrecht 22 § 3 ProdHaftG Rz 95 ff; krit Schilbach Die Haftung des Produzenten bei Fehlerverdacht 19, 76 ff: entscheidend ist ›Unvertretbarkeit‹ des Schadensrisikos). Bei welchen Produkten eine Fehlerwahrscheinlichkeit bereits als Fehler anzusehen ist, bedarf jedoch noch der Konkretisierung; der EuGH stellt insb auf die anormale Potentialität eines Personenschadens ab (bejaht vom KG – allerdings ohne genauere Ausführungen zum Schadenspotential – für eine Hüftprothese, MedR 16, 349, 350, grds auch von Brandbg 3 U 32/18, im konkreten Fall aber abgelehnt sowie Brandbg ZfPC 22, 134, aber dort nicht entscheidungserheblich, offengelassen vom BGH NJW 23, 3159 [BGH 01.08.2023 - VI ZR 82/22] Rz 40 ff; allg für implantierbare und ggf auch stoffliche Medizinprodukte Oeben Der potenzielle Produktfehler nach der EuGH-Rechtsprechung 16, 163 ff mit Drei-Schritt-Prüfung 134 ff; für eine Begrenzung auf lebenserhaltende implantierbare Medizinprodukte Kaufmann/Seehafer MedR 17, 369, 373 ff; ohne genauere Begrenzung Heynemann GuP 21, 32, 35f). Mit Blick auf die Verschuldensunabhängigkeit der Haftung dürfte die Annahme eines Fehlers hier nur ausnahmsweise in Betracht kommen und wäre insb bei nicht-medizinischen Produkten besonders begründungsbedürftig (so auch Brüggemeier ZEuP 16, 506, 508 ff). Auch die Höhe der Fehlerwahrscheinlichkeit ist noch zu konkretisieren; der BGH hat sie bei einem 17–20mal erhöhten Risiko bejaht (BGH VersR 15, 1038 Rz 17), das KG hält einen Fehleranteil von 4–5 % für ausreichend (MedR 16, 349, 350 [KG Berlin 28.08.2015 - 4 U 189/11]), abgelehnt wurde eine Haftung mangels Nachweises einer signifikanten Fehlerwahrscheinlichkeit von Brandbg 3 U 32/18. Zudem muss sich der Produktfehler bereits in einem Schaden manifestiert haben (was in den genannten Fällen wegen der zum Austausch der Geräte erforderlichen Körperverletzungen der Fall war), weil das ProdHaftG gerade keine Produktbeobachtungspflichten statuiert. Nach dem EuGH kann ein Schaden iSd Art 1, 9 S 1 lit a ProdHaftRL vorliegen, wenn die Explantation erforderlich ist, um den Produktfehler zu beseitigen (EuGH NJW 15, 1163 Rz 55). Diese hier schon zuvor befürwortete ausnahmsweise erweiternde Auslegung von Fehler- und Schadensbegriff wenn konkrete, anders als durch Austausch der Produkte nicht beherrschbare Gesundheitsgefahren im Raum stehen, entspricht dem Schutzzweck der ProdHaftRL. Die Frage könnte auch in anderen Fällen fehlerhafter Implantate (§ 823 BGB Rn 25) Bedeutung gewinnen. Ob ein daraus folgender Schadensersatzanspruch auch ein Schmerzensgeld umfasst, sollte je...