Rn 9

Überwiegend werden die unterschiedlichen Haftungsformen in mehrere Haftungs-›Spuren‹ aufgeteilt (grundl Esser JZ 53, 129 ff; für die Zusammenführung in einem einzigen System Jansen 545 ff, dagegen Canaris VersR 05, 577, 578 ff). Heute lassen sich mehr als die ursprünglichen zwei Spuren (Verschuldens- und Gefährdungshaftung) ausmachen (Ahrens/Spickhoff Deliktsrecht 22 § 2 Rz 8 ff nennen zudem Billigkeits- und Aufopferungshaftung).

1. Verschuldenshaftung.

 

Rn 10

§§ 823 ff beruhen auf dem Verschuldensprinzip und damit auf der individuellen Verantwortung (in Form von Vorsatz oder Fahrlässigkeit, § 276) des Schädigers (Ausn: §§ 829, 833 1). Das Grundmodell der Verschuldenshaftung wird teilw modifiziert durch Beweiserleichterungen oder Beweislastumkehr (Haftung für vermutetes Verschulden, zB in §§ 831 f, 836 ff oder bei der Produkt- bzw Arzthaftung).

2. Gefährdungshaftung.

 

Rn 11

Die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung beruht nicht auf der individuellen Verantwortung des Schädigers, sondern auf der Verwirklichung einer Gefahr, die im Einflussbereich des Ersatzpflichtigen zu lokalisieren ist. Grund der Risikozuweisung ist die Beherrschung einer Gefahrenquelle; die Haftung ist das Korrelat zur Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten (Soergel/Spickhoff Vor § 823 Rz 45). Eine Gefährdungshaftung kommt nur für ›besondere Gefahren‹, die sich auch bei Anwendung größter Sorgfalt nicht vollständig vermeiden lassen, in Betracht (die Abgrenzung kann im Einzelfall problematisch sein). Daher gibt es keine allgemeine Regelung der Gefährdungshaftung, sondern es existieren nur einzelne (idR nicht analogiefähige – zu Nachw und evtl Ausn insb Staud/J Hager Vorbem zu §§ 823 ff Rz 29) Haftungstatbestände, überwiegend in Sondergesetzen. Häufige Charakteristika der Gefährdungshaftung sind Haftungshöchstbeträge sowie eine Versicherungsmöglichkeit oder -pflicht; eine konsensfähige Verallgemeinerung ist bislang nicht geglückt. Wichtige Gefährdungshaftungstatbestände: §§ 833 1 BGB, 1 ff HPflG, 7 StVG, 33 LuftVG, 84 AMG, 25 f AtG, 114 ff BBergG, 32 GenTG, 1 UmweltHG; problematisch ist der Gefährdungshaftungscharakter bei §§ 89 WHG, 1 ProdHaftG, 302 IV 3, 600 II, 717 II, 945 ZPO.

3. Aufopferungshaftung.

 

Rn 12

Neben Verschuldens- und Gefährdungshaftung steht die Aufopferungshaftung als Einstandspflicht desjenigen, zu dessen Gunsten eine Aufopferung erfolgt ist, also ein rechtmäßiger Eingriff in ein Recht, den der Rechtsinhaber mit Blick auf überwiegende Interessen eines anderen ausnahmsweise zu dulden hat. Anknüpfungspunkt der Haftung ist nicht ein Verhalten des Begünstigten, sondern sein Vorteil (s nur Canaris VersR 05, 577, 580). Bsp: §§ 904 2, 906 II 2 (unmittelbar sowie analog als nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch, § 906 Rn 41 ff), § 14 BImSchG.

4. Versicherungen und kollektive Systeme des Schadensausgleichs.

 

Rn 13

Versicherungen und kollektive Systeme des Schadensausgleichs (insb soziale Sicherungssysteme) werden mitunter als zusätzliche Spur des Haftungsrechts betrachtet (s insb Marschall v Bieberstein VersR 68, 509 ff); va bei Unfallschäden ist häufig sogar von ›Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz‹ die Rede (s nur Fleming/Hellner/v Hippel Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz 80). Eine vollständige Ersetzung der Haftung durch Versicherungs- oder Versorgungsleistungen ist im deutschen Recht die Ausnahme. Wichtigstes Bsp ist die gesetzliche Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen nach §§ 104 ff SGB VII, aber selbst hier kann der Versicherungsträger ggf beim Unternehmer oder Dritten Regress nehmen, §§ 110 SGB VII, 116 SGB X; ähnlich: §§ 46 BeamtVG, 91a SVG, 81 ff BVG. Dieser Ansatz ist va dann problematisch, wenn der Umfang des Versicherungsschutzes hinter demjenigen der Deliktshaftung zurückbleibt. Häufiger ist die Situation, in der ein Deliktsanspruch neben der Versicherungs- oder Versorgungsleistung bestehen bleibt, aber idR auf denjenigen übergeht, der die Leistung an den Geschädigten erbracht hat, wie zB nach §§ 116 SGB X, 86 VVG, 6 EFZG, 76 BBG. Dieses Modell hat va Bedeutung bei Personenschäden, für die ein weitreichender Versicherungsschutz besteht. Es führt dazu, dass die Schadensabwicklung in der Praxis häufig zwischen Versicherungen erfolgt. Dabei spielen Schadensteilungs- und Regressverzichtsabkommen eine wichtige Rolle (dazu insb NK-BGB/Katzenmeier Vor §§ 823 ff Rz 47 ff). Sie führen letztlich zu einer ›Kollektivierung‹ der versicherten Schäden; dies wird insb bei Verkehrsunfällen deutlich.

 

Rn 14

Ausgangspunkt für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Haftungsrecht und Versicherungsschutz ist das Trennungsprinzip, wonach Voraussetzungen und Umfang der Haftung unabhängig vom Bestehen eines Versicherungsschutzes sind. Neben der praktisch wichtigen Ausnahme iRv § 829 (§ 829 Rn 6) lässt sich eine Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung des Versicherungsschutzes bei der Haftungsbegründung erkennen (s zB NK-BGB/Katzenmeier Vor §§ 823 ff Rz 40 mN; Armbrüster NJW 09, 187 ff; aus europäischer Perspektive Lüttringhaus VersR 14, 653 ff). Zurückhaltung ist insb bei Ansprüchen auf Ersatz immaterieller Schäden geboten (s.a. Armbrüster NJW 09, 187, 188 f...

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