Dr. Axel Deutscher, Dr. iur. Thorsten Junker
Rdn 3419
Literaturhinweise:
Burhoff, Rechtfertigender Notstand im straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren, VA 2005, 162
Deutscher, Bußgeldrechtliche Auswirkungen des § 35 StVO, VRR 2006, 447
Lehmann, Armer Rettungsdienst! Die Schlechterbehandlung des Rettungsdiensts nach § 35 V a StVO gegenüber Institutionen nach § 35 I StVO verstößt gegen Art. 3 I GG, NZV 2011, 228
Lorenz, Wann ist das Überfahren einer roten Ampel erlaubt?, NZV 2015, 471
s. auch die Hinweise bei → Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 2241.
Rdn 3420
1. Auch ein Rotlichtverstoß kann nach allgemeinen Grundsätzen gerechtfertigt sein. In der Praxis von Bedeutung ist hier – ebenso wie bei der Geschwindigkeitsüberschreitung (→ Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 2240) – insb. der rechtfertigende Notstand nach § 16. Dieser findet nach allgemeiner Meinung auch bei der Verletzung von Verkehrsvorschriften Anwendung (vgl. z.B. BayObLG DAR 1992, 368; OLG Düsseldorf VRS 82, 204; Beck/Berr/Schäpe, Rn 464 ff. m.w.N.).
Rdn 3421
2.a) Grds. gelten für die Rechtfertigung eines Rotlichtverstoßes dieselben Grundsätze wie für die Geschwindigkeitsüberschreitung. Daher kann auf die Ausführungen bei → Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 2240 verwiesen werden (s.a. Burhoff VA 2005, 162).
☆ Auch hier sind vor allem das Maß des Verstoßes, die allgemeine Verkehrslage, die Verkehrsdichte, der Zeitgewinn usw. von Bedeutung. Dazu muss ggf. vorgetragen werden.vorgetragen werden.
b) Hinzuweisen ist auf folgende Rechtsprechungsbeispiele:
Rdn 3422
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beim Nichtbeachten des Rotlichts zur Vermeidung eines drohenden Auffahrunfalls, wenn eine Gefährdung anderer nicht in Betracht kam (KG NZV 1993, 362; OLG Düsseldorf VRS 82, 204; krit. dazu Göhler NStZ 1993, 72 [Rspr.-Übersicht]), |
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nach unberechtigtem Befahren einer Busspur, wenn ein Wechsel oder Zurücksetzen in die normale Spur mit einer größeren Gefahr als ein Rotlichtverstoß verbunden wäre (OLG Hamm DAR 1994, 409), |
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beim Nichtbeachten des Rotlichts, um glatteisbedingtes Schleudern beim Anhalten zu verhindern (OLG Hamm VM 1970, 86; s. aber OLG Düsseldorf DAR 1992, 109), |
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ggf. bei polizeilicher Observierung des Kfz-Führers (KG NZV 2000, 510 = VRS 99, 223), |
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bei der Beförderung einer dringend benötigten Blutkonserve für eine lebensgefährliche Operation (OLG Hamm NJW 1977, 1892 [Gefährdung Dritter war allerdings fast weitgehend ausgeschlossen]), |
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lebensrettender Transport von Röntgenaufnahmen (KG NZV 1992, 456), |
Rdn 3423
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bei Missachtung des Rotlichts, um in eine Seitenstraße einzubiegen und sich Erleichterung von kolikartigen Schmerzen zu verschaffen (OLG Hamm VRS 53, 365), |
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beim Nichtbeachten des Rotlichts zur Vermeidung eines drohenden Auffahrunfalls bei Schneeglätte (OLG Düsseldorf DAR 1992, 109; s. aber OLG Hamm VM 1970, 86), |
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schnellstmöglicher Transport eines Zeugen zum Gericht (BGH VRS 4, 260; OLG Dresden DAR 2001, 214, jew. für das Zivilverfahren), |
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wenn der Betroffene, wobei ohne Belang ist, ob berechtigt oder unberechtigt, auf den Sonderfahrstreifen für Busse wechselt, weil er eine Fahrzeugpanne zu haben glaubt, und diesen dann freimacht, weil er die Weiterfahrt eines Linienbusses verhinderte (KG, Beschl. v. 21.5.2010 – 3 Ws (B) 138/10, VRR 2010, 283 [Ls.]). |
Rdn 3424
3. Hinweise für den Verteidiger!
Es gelten die Hinweise für den rechtfertigenden Notstand bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung entsprechend (dazu → Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 2257 f.; auch Deutscher VRR 2006, 447), und zwar wie folgt:
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Der Verteidiger muss darauf achten, dass (ausreichende) Feststellungen getroffen worden sind. Das gilt insbesondere, wenn der Betroffene Sonderrechte nach § 35 StVO für sich in Anspruch genommen hat (KG NZV 1992, 456 [lebensrettender Transport von Röntgenaufnahmen]; NZV 2000, 510 = VRS 99, 223 [polizeiliche Observierung eines Fahrzeugführers]). |
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Der Verteidiger muss den Betroffenen auf die Gefahr hinweisen, dass ggf. eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Rotlichtverstoßes droht (→ Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 2257). |
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In dem Zusammenhang können Irrtumsfragen eine Rolle spielen (→ Geschwindigkeitsüberschreitung, Urteil, rechtfertigender Notstand, Rdn 2257; Deutscher VRR 2006, 452; s.a. KG, Beschl. v. 21.5.2010 – 3 Ws (B) 138/10, VRR 2010, 283 [Ls.; vermeidbarer Verbotsirrtum, wenn der Betroffene davon ausgegangen ist, dass die Missachtung des Rotlichts gerechtfertigt sei, weil dadurch einem Linienbus die Weiterfahrt ermöglicht wurde]). Das gilt vor allem im Bereich des § 35 StVO. "Dringend geboten" i.S.v. § 35 Abs. 1 StVO meint nicht nur eine in der Vorstellung des Beamten tatsächlich vorhandene Eilbedürftigkeit, sondern räumt diesem einen Beurteilungsspielraum ein, innerhalb dessen er sein Handeln als zur Erfüllung seiner dienstlichen Aufgabe geboten werten darf. Die Urteilsgründe müssen insowei... |