Leitsatz
Der sich aus Art. 10 EG ergebende Grundsatz der Zusammenarbeit gebietet es einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften zu dem Zweck abzusehen, eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich zeigt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.
Normenkette
Art. 10 EG
Sachverhalt
Ein (österreichisches) Gericht hatte in einem Zivil-Rechtsstreit aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 seine Zuständigkeit angenommen und eine bei ihm erhobene Klage aus materiell-rechtlichen Gründen abgewiesen. Dagegen wandte sich die Klägerin mit der Berufung. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, dass die Beklagte trotz ihres Obsiegens in der Sache durch die Zuständigkeitsentscheidung des Vorderrichters beschwert sei und diese hätte anfechten können. Da sie dies nicht getan habe, sei die Entscheidung jedoch rechtskräftig und nach österreichischem Prozessrecht insofern nicht mehr änderbar.
Das Berufungsgericht hat jedoch den EuGH gefragt, ob der Grundsatz der Zusammenarbeit (Art. 10 EG) dahin auszulegen sei, dass ein nationales Gericht verpflichtet ist, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, wenn sich deren Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ergibt.
Entscheidung
Der EuGH hat diese Frage verneint: Das Gemeinschaftsrecht gebiete nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte.
Hinweis
Der EuGH hatte in dem Urteil vom 13.1.2004, Rs. C-453/00 (Kühne & Heitz, BFH-PR 2004, 204) eine Verwaltungsbehörde für verpflichtet erklärt, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt; er hat dies allerdings, was mitunter wenig beachtet worden ist, von einer ganzen Reihe von Bedingungen abhängig gemacht, zu denen – besonders wichtig – gehört, dass die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, ihre Entscheidung zu korrigieren. Es ist damals in dieser Zeitschrift darauf hingewiesen worden, dass der EuGH also das Rechtsinstitut der Bestands- und Rechtskraft als Ausprägung des Gebots der Rechtssicherheit, das auch ein Gebot des Gemeinschaftsrechts ist, akzeptiert und grundsätzlich nicht verlangt, dass eine Behörde eine bestandskräftige Entscheidung zurücknimmt, wenn sie nachträglich erkennt, dass diese rechtswidrig war. Das hat der EuGH jetzt bekräftigt und überdies (gelinde) Zweifel erkennen lassen, ob überhaupt vorgenanntes Urteil auf eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung übertragbar ist.
Die (gemeinschaftsrechtliche) Verpflichtung, das Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten richtig anzuwenden und durchzusetzen, besteht also – anders gesagt – nur in den Grenzen, die das nationale Verfahrensrecht den betroffenen Institutionen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zieht, einmal getroffene Entscheidungen abzuändern. Das Gemeinschaftsrecht verlangt allerdings, dass diese Möglichkeiten auch tatsächlich ausgeschöpft werden, insbesondere von etwaigen Ermessensspielräumen in diesem Bereich in gemeinschaftsfreundlicher Weise Gebrauch gemacht wird (vgl. das Urteil Rs. C-453/00).
Folglich kann in Deutschland ein rechtskräftiges Urteil nur unter den Voraussetzungen und in dem Verfahren der §§ 578 ff. ZPO, der Anhörungsrüge (in der FGO: § 133a) oder der Gegenvorstellung aufgehoben oder geändert werden, um einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht zu beseitigen.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 16.3.2006, Rs. C-234/04