1 Leitsätze
- Bei einer einheitlichen Entscheidung des Wohnungseigentumsgerichts in 1. Instanz richtet sich die Zuständigkeit des Berufungsgerichts auch dann einheitlich nach § 72 Abs. 2 GVG, wenn nur ein Teil der Entscheidung eine Wohnungseigentumssache i. S. v. § 43 Nr. 1 bis 4 und 6 WEG betrifft.
- Ein Rechtsanwalt darf sich in aller Regel auch dann noch auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung in Wohnungseigentumssachen und in Zivilsachen mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug verlassen, wenn der gegnerische Anwalt deren Richtigkeit in Zweifel zieht. Der durch den Fehler des Gerichts hervorgerufene Vertrauensschutz besteht regelmäßig so lange fort, bis das aufgrund der Rechtsmittelbelehrung angerufene Gericht auf seine Unzuständigkeit hinweist; erst dann beginnt die Wiedereinsetzungsfrist nach § 234 Abs. 2 ZPO zu laufen.
2 Normenkette
§§ 72 Abs. 2 GVG; 234 Abs. 2 ZPO
3 SachverhaltDas Problem
Das AG Waren (Müritz) verurteilt Wohnungseigentümer B, den von ihm vorgenommenen Dachgeschossausbau zu beseitigen. Außerdem stellt es fest, dass der Beschluss, mit dem der Dachgeschossausbau gebilligt worden war, nichtig ist. Soweit Wohnungseigentümer K, der Kläger, mit einem weiteren Klageantrag von B die Zustimmung zu einer Änderung der Teilungserklärung und der Gemeinschaftsordnung verlangt, weist es die Klage ab. In der Rechtsmittelbelehrung bezeichnet das AG das LG Neubrandenburg als zuständiges Berufungsgericht. K und B legen jeweils Berufung ein, B beim LG Neubrandenburg, K beim LG Rostock. Nach einem Hinweis des LG Neubrandenburg auf seine Unzuständigkeit, legt B Berufung beim LG Rostock als dem gem. § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG für Wohnungseigentumssachen zuständigen Berufungsgericht ein. Zugleich beantragt B Wiedereinsetzung. Das LG Rostock weist den Antrag zurück und verwirft die Berufung des B als unzulässig. Mit der Revision will B die vollständige Abweisung der Klage erreichen.
4 Die Entscheidung
Mit einem Zwischenerfolg! Das zur Entscheidung über die Berufung zuständige Berufungsgericht sei das LG Rostock. Bei dem Streit um die Beseitigung des Dachgeschossausbaus und über die Gültigkeit des Beschlusses handele es sich um WEG-Streitigkeiten. Der Umstand, dass der Antrag auf Zustimmung ggf. keine WEG-Streitigkeit betrifft, ändere an der Zuständigkeit des LG Rostock nichts. Die Voraussetzungen des § 233 ZPO seien gegeben. Durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung werde ein Vertrauenstatbestand geschaffen, der zur Wiedereinsetzung wegen schuldloser Fristversäumnis berechtige, wenn die Belehrung einen unvermeidbaren oder zumindest entschuldbaren Rechtsirrtum aufseiten der Partei hervorrufe und die Fristversäumnis darauf beruhe. Auch eine anwaltlich vertretene Partei dürfe sich im Grundsatz auf die Richtigkeit einer Belehrung durch das Gericht verlassen. Die Rechtsmittelbelehrung des AG sei auch nicht offenkundig fehlerhaft. So liege es nur, wenn sie nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermöge (Hinweis auf BGH, Beschluss v. 28.9.2017, V ZB 109/16, NJW 2018 S. 164 Rz. 11 und Rz. 12).
Hinweis
Der BGH musste sich 2 Fragen stellen: Die eine ist, ob § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG auch dann anwendbar ist, wenn der Kläger nach § 260 ZPO mehrere Ansprüche in einer Klage verbunden hat und nicht alle Ansprüche § 43 Nr. 1 bis Nr. 4 und Nr. 6 WEG unterfallen? Die andere ist, wann eine Partei auf eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung vertrauen darf? Zur 1. Frage ist dem Leitsatz zu entnehmen, dass § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG auch bei solchen Fällen anwendbar ist. Dem ist zuzustimmen. Im Kern sollte man mit der verfassungsrechtlich abgesicherten Rechtsmittelklarheit argumentieren. Zur 2. Frage erinnert der BGH an seine bisherige Rechtsprechung und wendet diese an, dass selbst ein Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht grundsätzlich einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung vertrauen darf.
Ausblick WEG-Reform
Das WEMoG wird die Rechtslage nicht ändern.
5 Entscheidung
BGH, Urteil v. 21.2.2020, V ZR 17/19