Dr. Wolf-Dietrich Deckert†
Leitsatz
Auslegung eines Eigentümerbeschlusses auch durch das Rechtsbeschwerdegericht
Zur Beschlussfassung über eine Ruhezeit-Regelung (Selbstorganisationsrecht der Gemeinschaft)
Zeitliche Einschränkungen des Singens und Musizierens außerhalb der Ruhezeiten müssen hinreichend bestimmt sein
Singen und Musizieren kann nicht ohne sachlichen Grund stärker eingeschränkt werden als eine Tonübertragung durch andere geräuschverursachende Geräte
Teilunwirksamkeit eines Beschlusses kann zur Gesamtunwirksamkeit führen
Beschluss als Rechtsgeschäft eigener Art
Mündliche Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (I. und II. Instanz)
Normenkette
§ 15 Abs. 2 WEG, § 23 Abs. 4 WEG, § 45 Abs. 1 WEG, § 139 BGB
Kommentar
1. In Wohnungseigentumssachen ist in den Tatsacheninstanzen in der Regel mündlich zu verhandeln; dies dient vorrangig dem Versuch einer gütlichen Einigung und der Sachaufklärung sowie der Gewährung rechtlichen Gehörs. Nur ausnahmsweise ist eine solche mündliche Verhandlung entbehrlich, wenn eine Einigung nicht zu erwarten und das rechtliche Gehör auf andere Weise sichergestellt ist (wie im vorliegenden Fall). Geht es nur um eine Entscheidung von Rechtsfragen und wünschen Beteiligte ausdrücklich keine weitere Verhandlung vor dem Landgericht, kann auf neuerliche Verhandlung verzichtet werden, wenn bereits in I. Instanz verhandelt wurde. Vorliegend beruhte auch die angefochtene landgerichtliche Entscheidung nicht auf fehlender mündlicher Verhandlung.
2. Ein angefochtener Eigentümerbeschluss, der Regelungen enthält, die auch für Sondernachfolger gelten sollen ( § 10 Abs. 3 und 4 WEG), ist wie Grundbucheintragungen (Eintragungsbewilligungen, Teilungserklärung und Gemeinschaftsordnung) auszulegen; die Auslegung ist nicht dem Tatrichter vorbehalten, sondern kann auch durch das Rechtsbeschwerdegericht erfolgen (h.R.M.).
Für die Auslegung maßgebend sind der Wortlaut der Eintragung und ihr Sinn, wie er sich aus unbefangener Sicht als nächstliegende Bedeutung der Eintragung ergibt; Umstände außerhalb der Eintragung dürfen nur herangezogen werden, wenn sie nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles für jedermann ohne weiteres erkennbar sind. Auch Eigentümerbeschlüsse mit Bindungswirkung sind deshalb "aus sich heraus"objektiv und normativ auszulegen. Insoweit unterscheidet sich die objektive Auslegung von der Auslegung nach objektivem Erklärungswert, so dass aus der beschränkten Nachprüfbarkeit der Auslegung von Willenserklärungen nach ihrem objektivem Erklärungswert nicht auf eine beschränkte Nachprüfung von Eigentümerbeschlüssen geschlossen werden kann.
3. Ein Eigentümerbeschluss ist in der Regel allein nicht deshalb unwirksam, weil er für die Hausbewohner eine Ruhezeit von 20 Uhr bis 8 Uhr und von 12 Uhr bis 14 Uhr vorsieht. Auch eine solche Entscheidung liegt grundsätzlich im Rahmen des Selbstorganisationsrechts der Eigentümergemeinschaft und dem ihr zustehenden Ermessensspielraum. Die Ermessensgrenze für Ruhezeitregelungen kann nach Grundsätzen von Treu und Glauben ( § 242 BGB) allein dort gezogen werden, wo der Beschluss entweder ein völliges Musizierverbot oder eine dem praktisch gleichzusetzende Reglementierung enthält. Musizieren innerhalb einer eigenen Wohnung ist nämlich Bestandteil eines sozial üblichen Verhaltens und Element der Zweckbestimmung einer Wohnanlage. Es darf zwar auf bestimmte Zeiten und einen bestimmten Umfang beschränkt, nicht jedoch insgesamt verboten werden (ebenfalls h.M.). Abzustellen ist hier auch auf den Charakter einer Wohnanlage (Seniorenwohnanlage oder eine solche mit überwiegend jüngeren Mitgliedern und vielen Kindern); weitere zu berücksichtigende Kriterien sind die baulichen Gegebenheiten (insbesondere Schallhörigkeit) sowie der Pegel von Umgebungsgeräuschen und auch die Art einer etwaigen Lärmverursachung. Primär geht es bei solchen Einschränkungsregelungen um aus einer Wohnung nach außen dringende Geräuschentwicklung und die Möglichkeit einer Belästigung anderer Mitbewohner (im vorliegenden Fall war der beschlussanfechtende Antragsteller Saxophon-Spieler).
4. Wird allerdings beschlossen, dass das Singen und Musizieren außerhalb von Ruhezeiten nur in "nicht belästigender Weise und Lautstärke" gestattet wird, ist eine solche Regelung mangels hinreichender Bestimmtheit unwirksam. In welchen Fällen und unter welchen Umständen hier das Musizieren eine Belästigung darstellt, die zum völligen Verbot führen soll, lässt sich weder aus der getroffenen Regelung noch den Umständen aus der Niederschrift der Versammlung entnehmen. Ein Regelungstatbestand muss sich hier hinreichend bestimmt und "aus sich heraus" von den Fällen zulässiger Betätigung in einer Wohnung abgrenzen lassen; dazu kann auf bestimmte Immissionsrichtwerte verwiesen werden, die eine Orientierungshilfe dafür bieten, ob das Musizieren dem Verbot der Hausordnung unterfällt oder außerhalb der Ruhezeiten zulässig ist.
5. Unwirksam ist auch eine Regelung, welche das Singen und Musizieren ohne sachlichen Grund stärker einschränkt als die Tonü...