Leitsatz (amtlich)

1. Vor der Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten nach § 144 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO Gelegenheit zu geben, innerhalb einer vom Gericht zu bestimmenden Frist den Pflichtverteidiger zu bezeichnen, dessen Beiordnung aufgehoben werden soll.

2. Macht der Beschuldigte von der Möglichkeit des § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO Gebrauch, kann nur der von ihm bezeichnete Verteidiger nach § 144 Abs. 2 StPO entpflichtet werden. Etwas anderes gilt beim Vorliegen eines wichtigen Grundes.

 

Normenkette

StPO § 142 Abs. 5 Sätze 1, 3, § 144 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Saarbrücken (Entscheidung vom 09.08.2022; Aktenzeichen 8 KLs 9/22)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten K. wird der Beschluss des Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer II des Landgerichts Saarbrücken vom 09. August 2022

a u f g e h o b e n.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.

 

Gründe

I.

1. Die Wirtschaftsstrafkammer II des Landgerichts Saarbrücken führt gegen den Angeklagten ein Strafverfahren wegen vorsätzlichen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Dopingmitteln in über 1.000 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Inverkehrbringen von bedenklichen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anklageschrift vom 21. April 2022 (Bl. 1560 ff. d. A.) und das darin niedergelegte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen, den Beschluss der Wirtschaftsstrafkammer II über die Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO vom 12. Mai 2022 (Bl. 1705 ff. d. A.) sowie die Ausführungen im Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 12. Mai 2022 (Bl. 1770 ff. d. A.) Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 13. Juli 2022 bestellte der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer II Rechtsanwalt M. zusätzlich zu dem bereits bestellten Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger, da dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens erforderlich sei, nachdem der bisherige Pflichtverteidiger mitgeteilt hatte, an zwei der anberaumten Hauptbehandlungstermine verhindert zu sein.

Nach Durchführung mehrerer Hauptverhandlungstermine teilte der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft, den beiden Pflichtverteidigern (per besonderem elektronischen Anwaltspostfach) und dem inhaftierten Angeklagten (formlos) mit Verfügung vom 05. August 2022 mit, dass das Gericht beabsichtige, die Bestellung von Rechtsanwalt M. als zusätzlichem Verteidiger gemäß § 144 Abs. 2 StPO aufzuheben und räumte eine Frist zur Stellungnahme bis zum 08. August 2022, 12 Uhr ein.

Nachdem beide Pflichtverteidiger jeweils mit am 08. August 2022 eingegangenem Schriftsatz Stellung genommen und sich gegen die Entpflichtung ausgesprochen hatten, hob der Vorsitzende die Bestellung von Rechtsanwalt M. als zusätzlichem Pflichtverteidiger mit Beschluss vom 09. August 2022 gemäß § 144 Abs. 2 StPO auf. In dem Beschluss wird insbesondere ausgeführt, dass bei Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers der zuletzt bestellte Rechtsanwalt zu entpflichten sei. Dies ergebe sich neben dem Umstand, dass rechtlich lediglich die Anwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung erforderlich sei, auch aus der Vorschrift des § 144 Abs. 2 S. 1 StPO. Insoweit wird ausgeführt: "Nach dessen Wortlaut ist die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers aufzuheben, sobald seine Mitwirkung (...) nicht mehr erforderlich ist."

Die Stellungnahme des Angeklagten vom 08. August 2022 ging am 09. August 2022 - laut Vermerk des Vorsitzenden vom 12. August 2022 erst nach der Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung - bei Gericht ein. In der Stellungnahme machte der Angeklagte geltend, dass er von Rechtsanwalt M. erfahren habe, dass dieser entpflichtet werden solle, das Anhörungsschreiben des Gerichts sei ihm selbst erst am Abend des 08. August 2022 zugegangen. Er widersprach der Entpflichtung und begründete dies im Wesentlichen damit, dass Rechtsanwalt S. im Gegensatz zu Rechtsanwalt M. nicht an allen Verhandlungstagen anwesend gewesen sei und dass zwischen ihm und Rechtsanwalt M. ein starkes Vertrauensverhältnis bestünde. Es sei ihm völlig unverständlich, warum er seinen Pflichtverteidiger nicht aussuchen könne. Wenn das Gericht einen der beiden Pflichtverteidiger entpflichten wolle, bitte er um Entpflichtung von Rechtsanwalt S..

2. Gegen den dem Angeklagten am 10. August 2022 zugestellten Beschluss legte Rechtsanwalt M. namens und im Auftrag des Angeklagten am 11. August 2022 sofortige Beschwerde ein, mit der er sich gegen die Aufhebung der Beiordnung wendet. In der Begründung der Beschwerde wird insbesondere geltend gemacht, dass der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer II die Vorschriften der §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 StPO nicht beachtet und dem Angeklagten nicht die gesetzlich vorgeschriebene Gelegenheit gegeben habe, den Verteidiger zu bezeichnen, von dem er weiter verteidigt werden wo...

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