Leitsatz (amtlich)
Stellt sich im Rechtsstreit über weitere Invaliditätsleistungen heraus, dass der Unfall nicht zu einer dauerhaften Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit geführt hat, kann die darauf gestützte Rückforderung des Versicherers gleichwohl nach Treu und Glauben ausgeschlossen sein, wenn dieser zuvor deutlich gemacht hatte, dass er die im Rahmen der Erstbemessung sachverständig festgestellte Invalidität dem Grunde nach nicht mehr in Zweifel ziehen werde und er dadurch bei dem Versicherungsnehmer ein berechtigtes Vertrauen auf die Bestandskraft seiner Regulierungsentscheidung geschaffen hat.
Normenkette
BGB §§ 242, 812 Abs. 1 S. 1; VVG § 168 Abs. 1, § 169
Verfahrensgang
LG Saarbrücken (Urteil vom 12.06.2023; Aktenzeichen 14 O 118/21) |
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 12. Juni 2023 verkündete Urteil des Landgerichts Saarbrücken - 14 O 118/21 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert:
Klage und Widerklage werden abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits sind zu 5/7 von der Klägerin und zu 2/7 von der Beklagten zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 35.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Parteien streiten mit Klage und Widerklage um Invaliditätsleistung aus einer Unfallversicherung. Die Klägerin unterhält bei der - vormals unter ... Versicherung AG firmierenden - Beklagten einen Unfallversicherungsvertrag mit KomfortPlus-Schutz, Versicherungsschein-Nummer: xxx (vormals: xxx = Anlage K1). Versichert ist u.a. eine Invaliditätsleistung mit 540 Prozent-Progression, die vereinbarte Invaliditäts-Grundsumme beträgt 50.000,- Euro, die Leistung bei Vollinvalidität 270.000,- Euro. Bestandteil des Vertrages sind u.a. die Allgemeinen Unfall-Versicherungsbedingungen (AUB 2008 = Anlage K1) sowie Besondere Bedingung für die verbesserte Gliedertaxe (UN 4824) und für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel 540 Prozent (UN 4154, jeweils als Anlage K2 vorgelegt).
Die am... 1981 geborene Klägerin machte gegenüber der Beklagten Ansprüche wegen eines vermeintlichen Unfallereignisses vom 30. August 2018 geltend, in dessen Folge es zu mehreren ärztlichen Behandlungen und einer Operation am 15. November 2019 gekommen war. Nach Einholung eines (ersten) fachärztlichen Gutachtens des Facharztes Dr. med. K. L. vom 12. November 2019 (Bl. 29 ff GA), der zusammenfassend konstatierte, dass es im Rahmen eines "geeigneten Herganges" zu einer "Binnenschädigung des linken Hüftgelenkes" gekommen sei, zu deren weiterer Prognose "zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt keine Aussage getroffen werden" könne, teilte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 25. November 2019 (BI. 159 GA) mit, dass sie einen "Vorschuss auf die Invalidität" in Höhe von 2.000,- Euro überwiesen habe. Weiter heißt es darin: "Wir hatten vereinbart, dass wir uns im April 2020 bei Ihnen wieder melden und nachfassen, ob wir dann den Gutachtenauftrag bereits in die Wege leiten können. Wir werden also im April 2020 auf den Vorgang unaufgefordert zurückkommen und wünschen Ihnen weiterhin gute Besserung." Nach Einholung eines weiteren Gutachtens des Sachverständigen Dr. L. vom 22. April 2020 (Anlage K4), der zu einer Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des linken Beines von ¼ gelangte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 30. April 2020 (Anlage K3) mit, dass sie auf dieser Grundlage von einer dauernden unfallbedingten Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des linken Beines in Höhe von ¼ (Beinwert) ausgehe, dass sich nach der Gliedertaxe daraus ein Invaliditätsgrad von 20 Prozent errechne und sie nach Verrechnung ihrer bisherigen Leistungen mit dem Gesamtanspruch der Klägerin einen Betrag in Höhe von weiteren 8.000,- Euro auszahlen werde. Weiterhin heißt es darin: "Falls sich Ihr Gesundheitszustand verändert, können sowohl Sie als auch wir die Beeinträchtigungen erneut ärztlich begutachten lassen. Dies ist bis zu drei Jahren nach dem Unfall jährlich möglich. Bitte melden Sie sich dann vor Fristablauf bei uns, gerne auch telefonisch. Ergibt sich aus der neuen Bemessung ein höherer Anspruch, zahlen wir Ihnen den Mehrbetrag einschließlich Zinsen. Verringert sich der Anspruch, müssen wir zuviel gezahlte Beträge zurückverlangen." In der Folgezeit machte die Klägerin geltend, mit dem lnvaliditätsgrad nicht einverstanden zu sein, woraufhin die Beklagte eine Neuuntersuchung durch Dr. L. beauftragte; nach Vorlage dessen weiteren Gutachtens vom 27. Januar 2021, in dem weiterhin eine Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des linken Beines von ¼ angenommen wir...