Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung einer "Treueprämie" auf den tariflichen Mindestlohn
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Anrechnung von Leistungen auf tariflich begründete Forderungen ist darauf abzustellen, ob die von der Arbeitgeberin erbrachte Leistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung der Arbeitnehmerin entgelten soll, die mit der tariflich begründeten Zahlung zu vergüten ist, so dass dem erkennbaren Zweck des tariflichen Mindestlohns, den die Arbeitnehmerin als unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit begehrt, der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung der Arbeitgeberin, die diese aufgrund anderer (individual- oder kollektivrechtlicher) Regelungen erbracht hat, gegenüberzustellen ist; im Falle einer funktionalen Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Leistungen (ähnlich der bei aufgrund eines Günstigkeitsvergleichs mit Sachgruppenbildung nach § 4 Abs. 3 TVG) ist die erbrachte Leistung auf den zu erfüllenden Anspruch anzurechnen.
2. Zur Beurteilung der "funktionalen Gleichwertigkeit" ist die "Funktion" zu bestimmen, die die reale Leistung der Arbeitgeberin hat, und festzustellen, ob sie sich auf diejenige von der Arbeitnehmerin geleistete oder zu leistende Arbeit bezieht, die nach dem durch eine Rechtsverordnung verbindlichen Tarifvertrag mit dem Mindestlohn abgegolten sein soll; für die Bestimmung dieser "Funktion" ist jedenfalls dann der subjektive Wille der Arbeitgeberin nicht entscheidend, wenn die Leistung nach einer an anderer Stelle als in dem durch Rechtsverordnung verbindlichen Tarifvertrag getroffenen Regelung erfolgt und sich ihre Funktion aus dieser Regelung ergibt.
3. Soweit die von der Arbeitgeberin angewandte Regelung die Arbeitsleistung als besonders schwierig oder als unter erschwerten Bedingungen geleistet ansieht und hierfür einen in den Entgeltabrechnungen gesondert ausgewiesenen "Zuschlag" an die Arbeitnehmerin zahlt, ist dieser gleichwohl auf den Mindestentgeltanspruch anzurechnen, wenn der betreffende Mindestlohntarifvertrag diese Tätigkeit gerade nicht als zuschlagspflichtig ansieht sondern sie als im Rahmen der mit dem Grundentgelt abzugeltenden "Normaltätigkeit" bewertet.
4. Eine "Treueprämie" ist eine dem tariflichen Mindestlohn funktional gleichwertige Leistung, wenn die Arbeitgeberin diese Prämie abweichend vom Wortlaut des Manteltarifvertrages für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde zahlt, selbst wenn in dem jeweiligen Monat Zeiten unentschuldigten Fehlens vorliegen, so dass es sich bei der "Treueprämie" ebenso wie beim Mindestlohn um eine unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit handelt.
Normenkette
BGB § 611 Abs. 1; MTV § 4 Nr. 3.5
Verfahrensgang
ArbG Leipzig (Entscheidung vom 21.08.2015; Aktenzeichen 12 Ca 1135/15) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Anerkenntnisteil- und Schlussurteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 21.08.2015 - 12 Ca 1135/15 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 35,00 € brutto Restvergütung für August 2014 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.09.2014 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9,60 € brutto Restvergütung für Oktober 2014 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2014 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4,80 € brutto Restvergütung für November 2014 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.12.2014 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 20,40 € brutto Restvergütung für Dezember 2014 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.01.2015 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4,80 € brutto Restvergütung für Januar 2015 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.02.2015 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 108,00 € brutto Restvergütung für Februar 2015 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.03.2015 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben die Klägerin 86 % und die Beklagte 14 % zu tragen. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
3. Die Revision wird für die Klägerin zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch darüber, ob als "Treueprämie" bezeichnete Leistungen der Beklagten auf den tariflichen Mindestlohn angerechnet werden dürfen.
Die Beklagte betreibt einen Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb für Geflügel. Die Klägerin, die in der Zeit vom 01.01.2003 bis 31.08.2012 Mitglied der Industriegewerkschaft ... war (vgl. Anlage K 16 zum Schriftsatz der Klägerin vom 05.05.2015; Bl. 100 d. A.), wird von der Beklagten seit dem 01.08.1991 auf der Basis einer "Änderung zum Arbeitsvertrag vom 06.02.1989" (Anlag...