Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung eines Rechtsgeschäfts gem. § 174 BGB. Unverzügliche Zurückweisung i.S.d. § 174 BGB. Wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung. Wichtiger Grund und umfassende Interessenabwägung
Leitsatz (redaktionell)
1. § 174 BGB dient dazu, bei einseitigen Rechtsgeschäften klare Verhältnisse zu schaffen. Der Erklärungsempfänger ist zur Zurückweisung der Kündigung berechtigt, wenn er keine Gewissheit darüber hat, dass der Erklärende tatsächlich bevollmächtigt ist und sich der Arbeitgeber dessen Erklärung deshalb zurechnen lassen muss. Dieser Grundsatz gilt auch bei der Beteiligung von zwei Vertretungspersonen des Arbeitgebers.
2. Die Zurückweisung muss nicht sofort, aber ohne schuldhaftes Zögern erfolgen (§ 121 BGB). Eine gewisse Zeit der Überlegung und zur Einholung des Rats eines Rechtskundigen ist einzuräumen. Eine Zeitspanne von mehr als einer Woche ohne Vorliegen besonderer Umstände erfüllt nicht mehr das Merkmal "unverzüglich".
3. Einen die fristlose Kündigung rechtfertigenden Grund stellen u.a. grobe Beleidigungen auch von Arbeitskollegen dar, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung des Betroffenen bedeuten. Auch eine sexuelle Belästigung ist eine Verletzung vertraglicher Pflichten und ist "an sich" als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB anerkannt.
4. Im Rahmen einer Gesamtwürdigung hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen. Besteht keine Wiederholungsgefahr und ist die Pflichtverletzung nicht über die Maßen schwer, kann eine Abmahnung als milderes Mittel ausreichen.
Normenkette
BGB §§ 121, 174, 241 Abs. 2, § 626 Abs. 1; AGG § 3 Abs. 4, § 7 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Leipzig (Entscheidung vom 05.12.2019; Aktenzeichen 6 Ca 1500/19) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 05.12.2019 - 6 Ca 1500/19 - wird
z u r ü c k g e w i e s e n .
2. Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 21.05.2019 sowie die Wirksamkeit der vorsorglich erklärten außerordentlichen Kündigungen vom 05.06.2019 und 19.08.2019.
Der am ...1975 geborene Kläger, der verheiratet und gegenüber einem Kind unterhaltsverpflichtet ist, ist bei der Beklagten, die die Herstellung von Automobilen betreibt, seit 01.04.2014 zuletzt als sog. Fertiger B im Bereich Technik beschäftigt.
Die einzelnen Arbeitsbedingungen vereinbarten die Parteien mit dem Arbeitsvertrag vom 10.03.2014 (Bl. 5 ff. d. A.). Danach galt für den Kläger eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 36 Stunden. Der Verdienst betrug zuletzt 3.671,63 € brutto monatlich.
In der Nachtschicht vom 01./02.05.2019 kam es zu einem Vorkommnis, welches weitgehend unstreitig ist. Der Kläger näherte sich dem Mitarbeiter ..., der zu diesem Zeitpunkt am sog. Ritzpräger tätig war und zog diesem unvermittelt mit beiden Händen die Hose herunter. Ob dabei auch die Unterhose heruntergezogen worden ist, wird vom Kläger "mit Nichtwissen" bestritten.
Der Mitarbeiter ... war bei der Beklagten als Leiharbeitnehmer tätig. Er war bei der ... GmbH beschäftigt. Der Mitarbeiter beschwerte sich bei seinem Arbeitgeber über die Vorkommnisse in der Nachtschicht am 01./02.05.2019. Er blieb in der folgenden Nachtschicht von der Arbeit fern.
In der Folge fanden Personalgespräche statt am 03.05.2019 (Schichtleiter ... und Kläger), am 06.05.2019 (Herr ..., Herr ... und weitere im Personalbereich der Beklagten tätige Personen), am 07.05.2019 (Kläger, Herr ... und weitere im Personalbereich der Beklagten tätige Personen) und am 14.05.2019 (Herr ..., Fertigungsleiter Herr ... und weitere im Personalbereich der Beklagten tätige Personen).
Am 15.05.2019 bat der Kläger um ein Gespräch, an dem die Personalreferentin Frau ..., ein Mitglied des Betriebsrats sowie weitere bei der Beklagten im Personalbereich tätige Personen teilnahmen. Der Kläger gab eine mündliche Stellungnahme ab und entschuldigte sich für den Vorfall. Der Kläger teilte hierbei mit, dass er einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt habe, eine Entscheidung bislang allerdings nicht erfolgt sei.
Der Kläger hat in der Zeit zwischen dem 01. und 07.04.2019 die Anerkennung als Schwerbehinderter beantragt.
Mit Schreiben vom 21.05.2019 beantragte die Beklagte vorsorglich beim Integrationsamt die Zustimmung zu einer weiteren außerordentlichen Kündigung. Mit Bescheid vom 28.05.2019 (Bl. 94 ff. d. A.) erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung.
Mit Schreiben vom 21.05.2019 (Bl. 18 d. A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos mit sofortiger Wirkung. Der Kläger erhielt das Kündigungsschr...