Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen. Entziehung der Leistungen nach § 5 Abs 3 S 3 SGB 2. Anforderungen an die Belehrung über die Rechtsfolgen fehlender Mitwirkung. Erforderlichkeit einer Ermessensentscheidung. einstweiliges Rechtsschutzverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Die nach § 5 Abs 3 S 4 SGB II geforderte Rechtsfolgenbelehrung unterliegt den gleichen strengen Anforderungen wie der in § 66 Abs 3 SGB I vorgesehene schriftliche Hinweis auf die Rechtsfolgen unterlassener Mitwirkung.
2. Jedenfalls über den Umfang der Versagung oder Entziehung nach § 5 Abs 3 S 3 SGB II bedarf es einer Ermessensentscheidung des Antragsgegners (wie LSG Chemnitz vom 6.1.2023 - L 7 AS 591/22 B ER = NJ 2023, 179 = juris RdNr 31).
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 5. Oktober 2023 teilweise aufgehoben und der Antrag der Antragsteller zu 2 und 3 abgelehnt.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
2. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin zu 1 die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehrten vorläufigen Rechtsschutz gegen einen Entziehungsbescheid des Antragsgegners wegen fehlender Mitwirkung im Verfahren bei der Familienkasse zur Gewährung von Kinderzuschlag.
Die 1977 geborene Antragstellerin zu 1, die mit ihren Kindern, dem 2013 geborenen Antragsteller zu 3 und der 2017 geborenen Antragstellerin zu 2, zusammenlebt, bezieht seit 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Für die Kinder wird Unterhaltsvorschuss und Kindergeld gezahlt. Zuletzt wurden der Bedarfsgemeinschaft mit Bewilligungsbescheid vom 17.02.2023 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 30.05.2023 und 14.06.2023 Leistungen für den Zeitraum von Juli bis Dezember 2023 bewilligt, nämlich für Juli 2023 208,51 EUR, für August 288,76 EUR, für September bis Oktober monatlich 1.011,01 EUR, für November 2023 974,01 EUR und für Dezember 2023 976,01 EUR.
Mit Schreiben vom 17.02.2023 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin zu 1 mit, dass sie Anspruch auf Kinderzuschlag haben könnte und bat sie, diesen bei der Familienkasse zu beantragen und die Antragstellung bis zum 06.03.3023 nachzuweisen. In der Begründung heißt es:
"Sie sind verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist (§ 12a Zweites Buch Sozialgesetzbuch - SGB II). Aufgrund Ihrer gesetzlichen Verpflichtung, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen, bin ich außerdem berechtigt, den Antrag ersatzweise für Sie zu stellen, wenn Ihre Antragstellung nicht umgehend erfolgt (§ 5 Absatz 3 SGB II). Auch wenn das Jobcenter den Antrag stellt, müssen Sie gegenüber dem vorrangigen Träger Ihren Mitwirkungspflichten nachkommen. Kommen Sie Ihren Mitwirkungspflichten nicht nach und versagt der vorrangige Träger seine Leistung daraufhin bestandskräftig, können auch Ihre Leistungen nach dem SGB II so lange versagt oder entzogen werden, bis Sie Ihrer Verpflichtung gegenüber Familienkasse Sachsen nachgekommen sind (§ 5 Absatz 3 Satz 3 SGB II). (…)"
Dem Schreiben waren Gesetzestexte und ein Antwortvordruck beigefügt.
Die Familienkasse Sachsen bei der Bundesagentur für Arbeit teilte dem Antragsgegner mit Schreiben vom 05.07.2023 mit, dass seinem Erstattungsersuchen nach §§ 103,104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht entsprochen werden könne. Der Antrag der Antragstellerin zu 1 sei "heute ab 03/2023 wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt" worden.
Mit Schreiben vom 15.08.2023 hörte der Antragsgegner die Antragstellerin zu 1 deswegen zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs bei sozialwidrigem Verhalten nach § 34 SGB II an (Gesamterstattungsbetrag für die Zeit von 01.03.2023 bis 31.08.2023 von 2.359,51 EUR).
Mit Bescheid vom 16.08.2023 wurden der Antragstellerin zu 1 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab 01.09.2023 teilweise in Höhe von 500,00 EUR entzogen. Sie habe einen Antrag auf Kinderzuschlag bei der Familienkasse Sachsen gestellt. Dort sei sie ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Deshalb sei die Leistung von der Familienkasse Sachsen mit Bescheid vom 05.07.2023 versagt worden. Diese Entscheidung sei bestandskräftig. Das Jobcenter A.... habe sie mit Schreiben vom 17.02.2023 darauf hingewiesen, dass die fehlende Mitwirkung gegenüber der Familienkasse Sachsen auch eine teilweise Entziehung ihrer Leistungen nach dem SGB II zur Folge habe. Wenn sie ihre Mitwirkung gegenüber der Familienkasse Sachsen nachgeholt habe, werde die Entziehung rückwirkend wieder aufgehoben (§ 5 Abs. 3 Satz 3 und 5 SGB II). Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.
Dagegen erhob der Prozessbevollmächtigte der Ant...