Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Vertretenmüssen. persönliches Fehlverhalten des Leistungsberechtigten. Umfang der Pflicht zur Mitwirkung an der Passbeschaffung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein ausreisepflichtiger staatenloser Palästinenser erfüllt seine Pflicht zur Beschaffung eines Rückreisedokuments, wenn er bei der Libanesischen Botschaft vorspricht und dort Identitätspapiere zum Zweck der Ausreise beantragt.
2. Die Einschränkung des Anspruchs auf Leistungen nach § 1a Abs 3 Asylbewerberleistungsgesetz (juris: AsylbLG) kommt in einem solchen Fall auch dann nicht in Betracht, wenn die Libanesische Botschaft die Ausstellung des Identitätspapiers davon abhängig macht, dass ein Aufenthaltstitel vorliegt oder die Ausländerbehörde bescheinigt, dass ein Aufenthaltstitel erteilt werden kann.
3. Die Pflicht zur Mitwirkung an der Passbeschaffung nach § 48 Abs 3 Aufenthaltsgesetz (juris: AufenthG 2004) ist im Hinblick auf die Passpflicht nach § 3 Abs 1 Aufenthaltsgesetz umfassend zu verstehen.
4. Eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs 3 Asylbewerberleistungsgesetz darf nur erfolgen, sofern die den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen hindernden Gründe allein auf einem persönlichen Fehlverhalten des Leistungsberechtigten beruhen.
Tenor
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 17. März 2020 wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren dem Grunde nach zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Der 1978 in Beirut geborene Antragsteller ist ein staatenloser Palästinenser, der im Libanon aufgewachsen ist. Seine Familie wurde durch die "United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA)" registriert (Bescheinigung vom 17. Januar 2019). Er reiste am 11. Dezember 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte am 16. Dezember 2015 einen Asylantrag. Dabei teilte er zunächst mit, syrischer Staatsbürger aus Z... zu sein. Diese Angaben berichtigte er am 8. März 2016 dahin, aus dem Libanon zu stammen. Identitätspapiere besitze er nicht. Seine Identitätskarte und sein Reisedokument seien während der Überfahrt über das Mittelmeer verloren gegangen (Erklärung des Antragstellers während der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] vom 4. Oktober 2016). Mit Bescheid vom 7. Januar 2016 wies die Landesdirektion Sachsen - Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) - den Antragsteller dem Antragsgegner zur Durchführung des Asylverfahrens zu. Dieser verpflichtete den Antragsteller dazu, seinen Wohnsitz in einem V... Wohnheim zu nehmen (Wohnsitzauflage vom 7. Januar 2016). Der Antragsteller erhielt eine Aufenthaltsgestattung bis zum 14. März 2017.
Das BAMF lehnte den Asylantrag des Antragstellers ab. Die Flüchtlingseigenschaft wurde ebenso wenig zuerkannt wie der subsidiäre Schutzstatus. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bestünden nicht. Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Sollte er die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er in den Libanon abgeschoben (Bescheid vom 28. Oktober 2016). Dieser Bescheid wurde am 15. November 2016 bestandskräftig. Die Abschiebungsandrohung ist seit dem 1. Dezember 2016 vollziehbar. Die Abschiebung ist seither ausgesetzt, da sie aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nicht vollzogen werden kann. Der Antragsgegner stellt seit dem 14. März 2017 Duldungsbescheinigungen für den Antragsteller aus. Die Aufenthaltsgestattung erlosch mit der Unanfechtbarkeit des Ablehnungsbescheides (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Asylgesetz [AsylG]).
Mit Schreiben vom 13. September 2017 informierte die ZAB den Antragsgegner darüber, dass sie bezogen auf den Antragsteller Maßnahmen zur Passbeschaffung einleite. Sie teilte dem Antragsteller mit Schreiben vom selben Tag mit, dass die ZAB dafür zu sorgen habe, dass der Antragsteller das Bundesgebiet verlasse. Zur Rückreise in sein Heimatland benötige er Identitätspapiere, über die er nach eigenen Angaben bei der Stellung des Asylantrages nicht verfüge. Deshalb forderte die ZAB den Antragsteller auf, sich über den Besitz eines gültigen, auf seine Person lautenden Identitätspapiers (insbesondere Pass, Passersatz oder Travel Document) zu erklären und dieses - falls vorhanden - abzugeben. Ansonsten kündigte die ZAB an, den Antragsteller gegebenenfalls mit Zwangsmitteln zur Mitwirkung an der möglicherweise notwendigen Beschaffung eines gültigen Identitätspapiers oder zur Herausgabe desselben zu veranlassen. Sie fügte den Vordruck einer Erklärung des Antragstellers zu Personalien und zum Besitz eines Identitätspapiers bei, welches dieser bis zum 8. Oktober 2017 ausgefüllt zurückreichen sollte. Den vorgelegten Verwaltungsakten ist nicht zu entnehmen, dass der Antra...