Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Rollstuhlfahrer. Brems- und Schiebehilfe. gesundheitliche Einschränkungen der Hilfsperson
Leitsatz (amtlich)
Für die Beantwortung der Frage, ob eine elektrische Brems und Schiebehilfe zur Fortbewegung eines auf den Rollstuhl angewiesenen ca 60 kg schweren Versicherten erforderlich ist, ist nicht auf die körperliche Leistungsfähigkeit einer durchschnittlichen Pflegeperson abzustellen, sondern auf die Leistungsfähigkeit der jeweils in Betracht kommenden Schiebeperson.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 23. Mai 2012 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu tragen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Kläger mit einer elektrischen Brems- und Schiebehilfe für den von ihm genutzten Multifunktionsrollstuhl, der ihm durch Bescheid der Beklagten vom 5. August 2009 bewilligt worden war, zu versorgen hat.
Der am … 1958 geborene Kläger leidet unter einem apallischen Syndrom. Er ist der Pflegestufe III zugeordnet und lebt in der Facheinrichtung für Intensivpflege der Beigeladenen. Er ist nicht dazu in der Lage, einen Rollstuhl selbstständig zu nutzen. Da seine Mutter inzwischen selbst auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist, wird er mittlerweile nur noch von seinem Vater, der am … 1936 geboren ist, mehrmals wöchentlich auch außerhalb des Pflegeheimgeländes ausgefahren. Der dem Kläger zur Verfügung stehende Multifunktionsrollstuhl wiegt 30 kg, das Körpergewicht des Klägers beträgt 66 kg.
Am 22. Dezember 2010 beantragte die Firma I… Rehatechnik für den Kläger unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin H… vom 13. Dezember 2010 und unter Vorlage eines Kostenvoranschlages vom 17. Dezember 2010 über 4.245,70 EUR die Kostenübernahme für eine Brems- und Schiebehilfe durch die Beklagte.
Mit Bescheid vom 17. Januar 2011 lehnte die Beklagte die begehrte Kostenübernahme mit der Begründung ab, der mit Bescheid vom 5. August 2009 zur Verfügung gestellte Rollstuhl gewährleiste den durch die gesetzliche Krankenversicherung geschuldeten Basisausgleich.
Hiergegen legte die Mutter des Klägers - zugleich dessen Betreuerin - am 8. Februar 2011 mit der Begründung Widerspruch ein, der Rollstuhl sei für ihren Sohn nicht nur Mittel zur Mobilisation, sondern auch eine Möglichkeit, örtlich mobil zu sein. Sie und ihr Ehegatte besuchten ihren Sohn fast täglich (mindestens fünfmal wöchentlich). Sie gingen mit ihm bei Wind und Wetter spazieren. So ermöglichten sie ihm, Zeit an der frischen Luft zu verbringen und andere Eindrücke durch die wechselnde Umgebung zu gewinnen. Die sichere Nutzung des Rollstuhls sei mittlerweile nicht mehr gegeben.
Mit Widerspruchsbescheid vom 3. März 2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Bestehe der Verwendungszweck eines Hilfsmittels ganz überwiegend und somit schwerpunktmäßig darin, die Durchführung der Pflege zu ermöglichen oder zu erleichtern, so begründe allein die Tatsache, dass es auch dem Behinderungsausgleich diene, nicht die Leistungspflicht der Krankenkassen. Vielmehr sei dann das Pflegeheim dazu verpflichtet, den Versicherten mit dem Hilfsmittel zu versorgen. Das Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes könne nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten des Gesunden verstanden werden. Bei der Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis könne daher nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt werden, die ein Gesunder zu Fuß zurücklege. Zu dem Grundbedürfnis zähle damit die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft zu kommen oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien, zu erreichen, wobei es auf die Besonderheiten des Wohnortes und Wohngebietes nicht ankomme. Der Lebensmittelpunkt des Klägers sei die Facheinrichtung für Intensivpflege. Für deren Bewohner würden im Rahmen der aktivierenden Pflege Alltagsgeschäfte vom Träger organisiert. Sollten die dort beschäftigten Pflegepersonen nicht in der Lage sein, den Kläger im Rollstuhl zu schieben, gehöre eine elektrische Brems- und Schiebehilfe in die Ausstattung der Einrichtung und müsse vom Heimträger finanziert werden. Mit einem Spaziergang im Außenbereich der Einrichtung werde dem Anliegen, an die frische Luft zu kommen, entsprochen. Die Befriedigung darüber hinausgehender Bedürfnisse obliege nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.
Dagegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 4. April 2011 Klage beim Sozialgericht (SG) Dresden erhoben.
Das SG hat zur Ermittlung des Gesundheitszust...