Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Wahl des Krankenhauses durch Versicherten. Vertrauen auf ärztliche Verordnung. Entscheidung über Krankenhausbehandlung steht Krankenkasse zu. Auswahl unter zugelassenen Krankenhäusern liegt bei Versicherten. Auferlegung von Mehrkosten durch Krankenkasse. Beachtung der religiösen Überzeugung. Amtsermittlungspflicht der Krankenkasse

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Versicherte kann bei der Wahl eines Krankenhauses auf die Angaben in der ärztlichen Verordnung vertrauen, ohne eine Belastung mit Mehrkosten befürchten zu müssen.

2. Die Krankenkasse hat darüber zu befinden, ob dem Versicherten ein bestimmter Anspruch auf Krankenbehandlung zusteht. Die Entscheidung, welchen Leistungserbringer der Versicherte in Anspruch nehmen darf, ist hingegen grundsätzlich nicht Sache der Krankenkasse, sondern der Versicherte kann unter den zugelassenen Leistungserbringern frei wählen. Die Krankenkasse kann dem Versicherten das Krankenhaus nicht vorschreiben, sondern ihm allenfalls die Mehrkosten auferlegen.

3. Sofern das Interesse der Solidargemeinschaft an einer funktionsfähigen Krankenversicherung durch Inanspruchnahme einer möglichst wirtschaftlichen Behandlung mit dem Wunsch eines Versicherten (Zeuge Jehovas) nach einer Behandlung entsprechend seiner religiösen Überzeugung (ohne Bluttransfusion) kollidiert, sind solche Verfassungsgüter in einer nach beiden Seiten hin schonenden Weise zum Ausgleich zu bringen.

4. Die Krankenkasse trifft die Pflicht, von Amts wegen zu ermitteln, wo eine der Gewissensentscheidung eines Versicherten entsprechende Behandlung wohnortnah und kostengünstig durchführbar ist und ihn auf solche Behandlungsmöglichkeiten hinzuweisen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung der Kosten für die Durchführung einer Wirbelsäulenoperation in der Klinik für Orthopädie des X.

B., die über die von der Beklagten für einen gleichartigen Eingriff erstatteten Kosten hinausgehen, welche in einem Krankenhaus in D. angefallen wären.

Die 1986 geborene Klägerin, die über ihren Vater bei der Beklagten versichert ist, litt an einer rasch progredienten thorakalen Skoliose mit einem Skoliosewinkel nach Cobb von 50Grad sowie einer Spondylolyse L 5/S 1 mit vertebragenem lumbalem lokalem Schmerzsyndrom. Sie gehört der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. Die Durchführung von Fremdbluttransfusionen und Eigenblutspenden lehnt sie aus religiösen Gründen ab. Nichts einzuwenden hat sie hingegen gegen den Einsatz eines Cell-savers. Diese Vorrichtung sammelt während der Operation im Wundgebiet verloren gegangenes Blut, bereitet es auf und führt es dem Blutkreislauf während des Eingriffs wieder zu. Damit wird nach der religiösen Überzeugung der Klägerin das Blut nicht aus dem Körper entnommen, sondern der Blutkreislauf gewissermaßen um den Cell-saver verlängert.

Am 05.01.2001 stellte sich die Klägerin nach Überweisung durch ihren behandelnden Orthopäden Dipl.-Med. K. in der Klinik und Poliklinik für Orthopädie D. vor. Dort wurde auf Grund der erheblichen Progredienz der Skoliosewinkel nach Cobb von 36Grad auf 50Grad trotz Orthesenbehandlung die Indikation zu einer kurzstreckigen, hochsitzenden dorsalen Skolioseaufrichtung gestellt. Im Rahmen des Aufklärungsgesprächs über die Behandlungsempfehlungen wurden die religiösen Bedenken der Kindesfamilie gegen eine Bluttransfusion deutlich. Eine Skolioseoperation ohne Bluttransfusion als Elektiveingriff anzugehen, lehnte das Universitätsklinikum jedoch ab. Die Kindeseltern wollten sich vorbehalten, ob sie in einem anderen Skoliosezentrum einen Operateur fänden (Arztbrief Prof. Dr. D., Dr. S.; vom 10.01.2001). Am 29.01.2001 wurde die Klägerin von Dr. S. in der Klinik für Orthopädie des B. untersucht, der ebenfalls eine Korrekturspondylodese für geboten hielt. Am 07.02.2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Krankenhausbehandlung im X. in B. für einen operativen Eingriff an der Wirbelsäule.

Dazu legte sie eine von Dipl.-Med. K. (Facharzt für Orthopädie in D.) am 05.02.2001 ausgestellte Verordnung über Krankenhausbehandlung vor. Als Diagnosen wurden darin genannt: “Skoliose, sonstige Lordose, Hüftdysplasie, Spondylolyse, Spondy-lolisthesis II - III nach Meyerding, Genu valgum". Als bisherige Maßnahmen seien eine Orthesenversorgung und Gymnastik erfolgt. Es werde eine Skolioseaufrichtungsoperation erbeten. Als nächsterreichbares, geeignetes Krankenhaus benannte Dipl.-Med. K. die Orthopädische Klinik der X. Die Beklagte holte daraufhin eine Stellungnahme beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Für diesen führte Dr. E. am 15.02.2001 aus, es sei kein medizinischer Grund für eine Operation in B. gegeben, sondern ein rein religiöser Grund. Dr. K. vom MDK stellte am 19.03.2001 ergänzend fest, die operative Behandlung der Skoliose sei medizinisch indiziert. Die Operation sei auch in D. möglich, aber aus religiösen Gründen von der Familie in B. erwünscht.

Der Vater der Klägerin t...

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