Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Versäumung der Klagefrist. Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides per Briefpost. Ortsabwesenheit. Fristbeginn zum Zugangszeitpunkt nach Zugangsfiktion. keine Wiedereinsetzung
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn für den Empfänger einer Willenserklärung unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist es unerheblich, ob und wann er die Erklärung tatsächlich zur Kenntnis genommen hat und ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war (Anschluss an BAG vom 22.3.2012 - 2 AZR 224/11 = EzA § 5 KSchG Nr 41).
2. Der Zeitpunkt der Kenntnisnahme eines Verwaltungsaktes ist ohne Bedeutung, weil die hier maßgebenden Fristenregelungen (§ 87 Abs 1 S 1, Abs 2 SGG iVm § 37 Abs 2 S 1 SGB 10) allein auf den Zugangszeitpunkt abstellen.
3. Ein Rechtsirrtum iS von § 67 Abs 1 SGG kann nur dann unverschuldet sein, wenn der Beteiligte ihn auch bei sorgfältiger Prüfung nicht vermeiden konnte. Auf Grund dessen ist der Adressat eines Verwaltungsaktes oder einer Gerichtsentscheidung gehalten, die Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelbelehrung zu beachten (Anschluss an BSG vom 9.9.1988 - 1 BA 115/88).
Tenor
I. Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 22. März 2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten hat der Beklagte den Klägern nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Klage.
Die Kläger bezogen seit Dezember 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) von der Arbeitsgemeinschaft L… L… (im Folgenden: ARGE), der Vorgängerin des Beklagten.
Auf Antrag der Kläger bewilligte die ARGE ihnen mit Bescheid vom 6. Dezember 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis zum 28. Februar 2007 in Höhe von monatlich 723,90 EUR und für den Zeitraum vom 1. März 2007 bis zum 31. Mai 2007 in Höhe von monatlich 554,90 EUR. Dagegen legten die Kläger mit Schreiben vom 15. Mai 2007 Widerspruch ein, der mit dem Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2008 (Az.-Zusatz W 1870/07) als unzulässig verworfen wurde.
Mit Bescheid vom 19. Juni 2007 bewilligte die ARGE den Klägern Leistungen für die Zeit vom 1. Juni 2007 bis zum 30. November 2007. Mit Bescheid vom 26. Juli 2007 hob die ARGE die Leistungsbewilligung mit Wirkung zum 1. September 2007 wegen Wegfalls der Bedürftigkeit auf. Gegen den Bewilligungsbescheid vom 19. Juni 2007 erhoben die Kläger am 27. Juni 2007 Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2008 (Az.-Zusatz W 2254/07) als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Mit Änderungsbescheid vom 8. Oktober 2007 bewilligte die ARGE den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis zum 30. November 2007 in Höhe von monatlich 198,25 EUR sowie mit Bescheid vom 9. Oktober 2007 Leistungen vom 1. Dezember 2007 bis zum 29. Februar 2008 in Höhe von monatlich 198,25 EUR und für den Zeitraum vom 1. März 2008 bis zum 31. Mai 2008 in Höhe von monatlich 28,25 EUR. Gegen die Bescheide vom 8. und 9. Oktober 2007 legten die Kläger mit Schreiben vom 17. Oktober 2007 Widerspruch ein. Diese Widersprüche wies die ARGE mit Widerspruchsbescheiden vom 3. Juli 2008 (Az.-Zusätze W 3874/07 und W 3875/07) als unbegründet zurück.
Die Klägerin zu 1 hat gegen die Widerspruchsbescheide vom 3. Juli 2008 (Az.-Zusätze W 1870/07, W 3874/07, W 3875/07, W 2254/07) Klage erhoben. Der Klageschriftsatz ist datiert vom 20. August 2008 und ist per Telefax am 29. August 2008 beim Sozialgericht Leipzig eingegangen. Er ist überschrieben mit:
"Klageerhebung zu den Widersprüchen der Arbeitsgemeinschaft L… L… vom 3. Juli 2008 (Eingang 22.07.2008) Geschäftszeichen: 970-BG-Nr.: 07506BG0021196-W 1870/07, W 3874/07, W 3875/07, W 2254/07) […]"
Die Klägerin zu 1 hat darin mitgeteilt, dass sie "vom 16.07.2008 - 05.08.2008 im Urlaub war (Usedom) - Beleg kann Ihnen nachgereicht werden, und somit erst am 06.08.2008 Kenntnis der o.g. Widersprüche erlangt […]" habe.
Das Sozialgericht hat zunächst vier Klagen angelegt (Az. S 9 AS 3294/08, S 9 AS 3594/08, S 9 AS 3595/08 und S 25 AS 3596/08), diese dann aber nach einem Kammerwechsel mit Beschluss vom 1. Juni 2010 verbunden und unter dem Az. S 26 AS 3294/08 fortgeführt.
Mit Schriftsätzen vom 10. Mai 2010, 1. Juni 2010 und 21. Februar 2011 hat das Sozialgericht die Klägerin zu 1 darauf hingewiesen, dass die Klagefrist nicht eingehalten sein dürfte. Wiedereinsetzungsgründe seien nicht ersichtlich beziehungsweise nicht glaubhaft gemacht. Es werde auf die Möglichkeit eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) hingewiesen.
Die Klägerin zu 1 hat hierzu mitgeteilt, dass sie sich im Juli/August 2008 im Urlaub befunden habe, und hat im Übrigen in der...