Verfahrensgang
SG Dresden (Urteil vom 30.06.1994; Aktenzeichen S 13 Vs 52/93) |
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 30. Juni 1994 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der am 09.02.1938 geborene Kläger, von Beruf Chirurg, ist seit 1985 wegen der Folgen einer Erkrankung an einer progredienten Multiplen Sklerose (Encephalitis bzw. Encephalomyelitis disseminata) Bezieher einer (Invaliden-)Rente. Nach dem Behindertenrecht der ehemaligen DDR war er als Schwerbeschädigter ab 1985 der Stufe II und ab Juni 1989 der Stufe IV + B anerkannt. Aufgrund seines Antrages vom 15.05.1991 auf Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) und Anerkennung der Nachteilsausgleiche nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) stellte das Amt für Familie und Soziales – Versorgungsamt – Dresden beim Kläger mit Bescheid vom 28.05.1991 als Behinderung „Encephalitis disseminata mit Paraspatik” mit einem GdB von 100 sowie die Merkzeichen „B”, „G” und „aG” fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen u.a. des Merkzeichens „RF” wurden dagegen verneint.
Zur Begründung des hiergegen am 12.06.1991 eingelegten Widerspruchs trug der Kläger vor, daß seit der Erstellung der vom Beklagten und Berufungskläger zugrundegelegten ärztlichen Befunde aus dem Jahre 1979 eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten sei, so daß ihm die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr möglich sei. Seit dem 01.07.1990 sei ihm (bisher) wegen dieser Gesundheitsverhältnisse die dem Merkzeichen „RF” entsprechenden Nachteilsausgleiche gewährt worden.
Die zur weiteren Überprüfung eingeholten ärztlichen Berichte und Befundunterlagen des behandelnden Internisten Dr. Unger und des Psychiaters und Neurologen Doz. Dr. B. Kunath (einschließlich der Unterlagen der Psychiatrie und Neurologie der Medizinischen Akademie „Carl Gustav Carus” in Dresden), in welchen neben einer Paraspastik, Koordinationsstörungen und Sehstörungen als Auswirkungen der Encophalomyelitis auch Miktionsstörungen festgestellt wurden, ließ der Beklagte durch den beratenden Internisten Dr. Tischendorf auswerten. Gestützt auf dessen Stellungnahme vom 20.04.1993, laut welcher sich die Harninkontinenz beim Kläger durch Tragen von Windeleinlagen so beeinflussen lasse, daß keine Geruchsbelästigung für die Umgebung bestehe, wies er den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.04.1993 als unbegründet zurück. Ungeachtet der festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen und trotz des GdB von mehr als 80 gehöre der Kläger nicht zu den Behinderten, die wegen ihres Leidens nicht ständig an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könnten. Die gesetzliche Voraussetzung, daß ihm die Teilnahme an solchen Veranstaltungen auf Dauer und auch unter Zuhilfenahme von Begleitpersonen und technischen Hilfsmitteln nicht möglich sei, liege bei ihm nicht vor.
Gegen diese Bescheide hat der Kläger am 10.05.1993 Klage zum Sozialgericht Dresden erhoben. Auch bei Benutzung eines Rollstuhls könne er nicht auf Dauer, sondern nur bei ganz günstiger Witterung sich im Freien bewegen und öffentliche Veranstaltungen besuchen. Anläßlich einer persönlichen Anhörung vor dem Sozialgericht am 03.02.1994 wies er ergänzend darauf hin, daß ihm von der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK Dresden) Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit gewährt worden seien. Die bei ihm festgestellte Blasenentleerungsstörung gestalte sich schwieriger als dies vom Beklagten angenommen werde. Dies ergebe sich daraus, daß er den Harnabgang, welcher infolge eines hohen Flüssigkeitsbedarfs in Abständen von wenigstens einer halben Stunde erfolge, selbst nicht merke. Eine solche Flüssigkeitsmenge lasse sich auch nicht ohne erhebliche Störungen für ihn und für andere Veranstaltungsteilnehmer durch die Nutzung von Windelhosen ausgleichen.
Zur weiteren Sachaufklärung holte das Sozialgericht eine Ablichtung des im Auftrag der AOK Dresden erstellten ärztlichen Berichts zur Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit vom 06.05.1991 zum Verfahren bei, in welchem der Internist Dr. K. Pfeffer und der Neurologe und Psychiater Dr. B. Kunath neben Funktionsbehinderungen der Arme, Hände, Beine und Füße infolge der Lähmungen auch eine dauernde Inkontinenz der Blase und des Darmes angeben und das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen einer Schwerpflegebedürftigkeit bejahen.
Mit Urteil vom 10.06.1994 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide des Beklagten abgeändert und diesen verpflichtet, beim Kläger das Merkzeichen „RF” ab 01.05.1991 anzuerkennen. Die hierfür erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen seien beim Kläger wegen der als Folge der MS-Erkrankung bestehenden Harninkontinenz erfüllt. Diese müsse bei einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unvermeidbar zur Geruchsbelästigung für die Umgebung führen. ...