Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides im sozialgerichtlichen Verfahren um die Feststellung eines Grades der Behinderung. Umfang der Pflicht zur Amtsermittlung im Streit um die Zuerkennung eines Grades der Behinderung bei einer aufgrund einer Krankheit im Kindesalter eingetretenen Taubheit
Orientierungssatz
1. Ein Gerichtsbescheid kommt im sozialgerichtlichen Verfahren über die Feststellung eines Grades der Behinderung nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Sachverhalt auch in medizinischer Hinsicht geklärt ist. Dabei ist ein Sachverhalt erst dann als geklärt anzusehen, wenn Zweifel hinsichtlich des Sachverhalts ausgeschlossen sind, insbesondere auch die Feststellungen zu Gesundheitsbeeinträchtigungen und den daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen abschließend geklärt sind.
2. Im Rahmen der Feststellung eines Grades der Behinderung ist für die Beurteilung des Zeitpunkts, ab dem bei einem Betroffenen aufgrund einer Erkrankung von einer Taubheit mit einsetzender Sprachstörung geschlossen werden kann, durch das Gericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht regelmäßig ein HNO-ärztliches Fachgutachten einzuholen. Dagegen genügt das Abstellen auf ärztliche Stellungnahmen des Ärztlichen Dienstes insoweit nicht als Grundlage für die Bemessung des GdB durch das Gericht.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 24. Juni 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt einen Nachteilsausgleich für Gehörlose nach dem Gesetz über die Gewährung eines Landesblindengeldes und anderer Nachteilsausgleiche (Landesblindengeldgesetz - LBlindG).
Bei der am …1966 geborenen Klägerin stellte das Amt für Familie und Soziales Chemnitz mit Bescheid vom 5. August 1992 einen GdB von 60 und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF fest. Als Funktionseinschränkung wurde berücksichtigt "Schwerhörigkeit beidseits".
Mit Bescheid vom 10. August 1995 stellte die Versorgungsverwaltung für die Zeit ab 14. Dezember 1994 einen GdB von 80 fest unter Berücksichtigung der Funktionsstörung "Taubheit mit Sprachstörung". Weiterhin zuerkannt blieben die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF.
Mit weiterem Bescheid der Versorgungsverwaltung vom 4. Mai 2005 wurde festgestellt, dass die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen GL ab 1. Juli 2001 erfülle.
Ein am 21. August 2008 gestellter Antrag auf Gewährung eines Nachteilsausgleichs für Gehörlose nach dem LBlindG blieb ohne Erfolg (Bescheid des Beklagten vom 11. Mai 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Kommunalen Sozialverbandes Sachsen vom 23. Juni 2009). Zur Begründung wurde ausgeführt, Gehörlosigkeit im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen des § 1 Abs. 4 LBlindG liege nicht vor, weil der GdB für die bei der Klägerin vorliegende Taubheit mit Sprachstörung weiter mit 80 festgestellt worden sei.
Am 12. August 2009 stellte die Klägerin bei dem Beklagten einen Antrag auf Erhöhung des GdB und Gewährung von Leistungen nach dem LBlindG.
Mit Bescheiden vom 21. April 2010 wurden jeweils die Anträge abgelehnt. Die Bescheide sind bestandskräftig geworden.
Am 5. Dezember 2011 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Erhöhung des GdB und Gewährung eines Nachteilsausgleichs für Gehörlose nach dem LBlindG.
Hierzu legte sie eine "eidesstattliche Erklärung" ihrer Mutter M. vom 15. November 2011 vor, worin diese erklärte, die Klägerin sei 1967 an Masern mit schwerem Verlauf erkrankt, es sei zwei Monate später eine Mittelohrentzündung rechts erfolgt. Im März 1969 seien an der Universitätsklinik J. die Taubheit des linken Ohres und hochgradige Innenohrschwerhörigkeit rechts diagnostiziert worden. Die beidseitige Hörbehinderung sei durch ärztliche Untersuchung vor der Vollendung des dritten Lebensjahres festgestellt worden. Eine gezielte Untersuchung sei notwendig gewesen, weil sie in der Kinderkrippe nicht auf Ansprechen reagiert und die Sprachentwicklung gestört gewesen sei. Ab 1969 sei die Erstversorgung rechts mit einem Hörgerät und die gezielte Sprachausbildung in der Beratungsstelle für Hörgeschädigte in K. erfolgt. Wegen der Schwere der Hörbehinderung sei die Schul- und Berufsausbildung nur an Spezialschulen für hörbehinderte Menschen möglich gewesen. Sie sei jetzt beidseitig taub. Die frühkindliche schwere Hörbehinderung habe dauerhaft gravierende Auswirkungen auf den Spracherwerb gehabt, das Verstehen von Wort und Schrift sowie auf ihre Aussprache.
Befundberichte wurden eingeholt von Frau Dipl.-Med. K. (Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in M., vom 12. März 2012, Diagnose: Taubheit beidseits mit Hörresten rechts. Es bestehe eine Taubheit links mit 100 % Hörverlust, die Taubheit rechts mit Hörresten, die zur apparativen Versorgung genutzt wü...