Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Gerichtsbescheid. unstatthafter Antrag auf mündliche Verhandlung. keine Verwerfung durch Beschluss. Zulässigkeit einer Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags. Meistbegünstigungsgrundsatz. zulässiges Rechtsmittel. fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung. Berufungsrücknahme. Folge für eine Nichtzulassungsbeschwerde bzw einen Antrag auf mündliche Verhandlung. Rechtsmittelfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Sozialgericht, das einen Antrag auf mündliche Verhandlung iS von § 105 Abs 2 S 2 SGG als unstatthaft erachtet, darf den Antrag wegen einer fehlenden Rechtsgrundlage nicht durch Beschluss verwerfen, sondern muss über ihn durch Urteil auf Grund mündlicher Verhandlung, sofern nicht auf eine solche verzichtet wird, entscheiden.
2. Der Zulässigkeit einer Beschwerde steht nicht entgegen, dass das Sozialgericht über den Antrag auf mündliche Verhandlung durch Urteil statt wie geschehen durch Beschluss hätte entscheiden müssen. Denn einem Kläger darf kein Nachteil dadurch erwachsen, dass er von dem Rechtsmittel Gebrauch gemacht hat, auf das er durch das Gericht hingewiesen worden ist. Vielmehr ist in einem solchen Fall nach dem Grundsatz der sogenannten Meistbegünstigung sowohl das Rechtsmittel zulässig, das gegen die gewählte Entscheidungsform zulässig wäre, als auch das Rechtsmittel, das gegen die richtige Entscheidungsform zulässig gewesen wäre (Bestätigung der Rechtsprechung im Urteil des LSG Chemnitz vom 13.10.2022 - L 3 AS 1138/16 B = juris RdNr 25 bis 59).
3. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (vglBSG vom 22.9.2022 - B 11 AL 32/21 R = SozR 4-4300 § 151 Nr 5) steht im Falle einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung durch das Sozialgericht eine Berufungsrücknahme nicht einer nachfolgenden Nichtzulassungsbeschwerde entgegen. Dies gilt entsprechend für einen Antrag auf mündliche Verhandlung, den der Gesetzgeber bei einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid als Alternative zu einer Nichtzulassungsbeschwerde vorgesehen hat.
4. Zur Frage, welche Folgen eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung durch das Sozialgericht für die Rechtsmittelfrist hat.
Tenor
I. Auf die Beschwerden der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 1. März 2018 aufgehoben.
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 30. Mai 2014 gilt als nicht ergangen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der endgültigen Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich mit ihren Beschwerden gegen einen Beschluss des Sozialgerichtes, mit dem ihre Anträge auf mündliche Verhandlung zu einem Gerichtsbescheid als unzulässig verworfen worden sind. Im Klageverfahren waren höhere Leistungen für den Zeitraum von Januar bis Juni 2013 streitig.
Der 1952 geborene Kläger zu 1 und die 1956 geborene Klägerin zu 2 bezogen vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Mit Änderungsbescheid vom 10. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2013 bewilligte er ihnen für die Monate Januar bis Juni 2013 Leistungen in monatlich unterschiedlicher Höhe. Ausweislich des handschriftlichen Eintrages auf dem unter Blatt 470 der Verwaltungsakte befindlichen Berechnungsbogen zum Änderungsbescheid vom 10. Juli 2013 betreffend Februar 2013 gilt dieser Berechnungsbogen auch für die Monate März, Mai und Juni 2013.
Die von den anwaltlich vertretenen Klägern am 1. Dezember 2013 erhobene Klage begründeten sie damit, dass das Einkommen des Klägers zu 1 falsch bereinigt worden sei; der Grundfreibetrag sei nicht nur vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit, sondern von seinem Gesamteinkommen abzuziehen. Auch seien die Wohnkosten falsch ermittelt worden. Schließlich seien die gesetzlich festgelegten Regelsätze nicht verfassungskonform ermittelt. Diesbezüglich verwiesen sie auf den Vorlagebeschluss des Sozialgerichtes Berlin vom 25. April 2012 (Az.: S 55 AS 9238/12 ). In dieser Entscheidung ist die Auffassung vertreten worden, dass für alleinstehende Leistungsberechtigte im Jahr 2012 ein normativer Fehlbetrag von 36,07 EUR angenommen werden müsse. Für Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren ergebe sich mindestens ein normativer Fehlbetrag von 32,00 EUR bis 40,30 EUR.
Das Sozialgericht wies die Klagen mit Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2014 (Az.: S 3 AS 5588/13 ) ab. Hinsichtlich der Rüge der Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfe fehle den Klägern das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil der Beklagte im Änderungsbescheid vom 10. Juni 2013 zugesichert habe, den Bescheid zu Gunsten der Kläger abzuändern, sofern das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelbedarfe als verfassungswidrig ansehe. Es belehrte über die Berufung als statthaften Rechtsbehelf. Es führte unter Bezugnahme auf das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. November 2012 (Az.: L 16 AS 398/11 ) aus, dass in Fällen, in denen die Verfassungswidrigkeit der Regels...