Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. vorrangige Leistungen. Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente. Ermessensentscheidung. intendiertes Ermessen. Rentenbeantragung durch den Grundsicherungsträger. Nichtvorliegen einer unbilligen Härte bzw eines atypischen Falls. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die auf § 5 Abs 3 S 1 SGB 2 gestützte Aufforderung an einen Leistungsberechtigten, eine vorrangige Leistung bei einem anderen Leistungsträger zu beantragen, steht zwar im Ermessen des SGB 2 Leistungsträgers.
2. Soweit der Leistungsberechtigte aber nach § 12a SGB 2 zur Inanspruchnahme der anderen Leistung verpflichtet ist, liegt ein intendiertes Ermessen vor mit der Folge, dass eine die Interessen des Leistungsberechtigten mit dem öffentlichen Interesse im Einzelnen abwägende Ermessensentscheidung nur in atypischen Fällen erforderlich ist, insbesondere dann, wenn die erzwungene Inanspruchnahme der anderen Leistung mit einem außergewöhnlichen Nachteil verbunden ist, der eine unangemessene (unbillige) Härte begründen kann.
3. Bei der Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente liegt ein atypischer Fall nicht schon dann vor, wenn der Leistungsberechtigte bei Bezug einer vorzeitigen Altersrente auf ergänzende Leistungen nach dem SGB 12 angewiesen wäre. Dies gilt unabhängig davon, ob die abschlagfreie Altersrente bedarfsdeckend wäre oder nicht.
Orientierungssatz
Die Regelungen der §§ 5 Abs 3, 12a SGB 2 sind verfassungsgemäß.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 13. Mai 2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Aufforderung, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.
Die am ...1951 geborene Klägerin wohnt allein und bezieht seit dem 01.01.2005 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Beklagte bewilligte diese Leistungen u.a. mit Bescheid vom 21.10.2013 für den Zeitraum vom 01.12.2013 bis 31.05.2014 unter Berücksichtigung des Regelbedarfs für Alleinstehende in Höhe von 382,00 EUR und von Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 309,76 EUR sowie eines Einkommens von 136,00 EUR aufgrund eines Arbeitsverhältnisses als Reinigungskraft.
Nachdem dem Beklagten aufgrund einer Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung M… (DRV) bekannt geworden war, dass die Klägerin eine abschlagsfreie Altersrente ab dem 01.02.2016 beziehen könnte und eine Altersrente mit Abschlägen schon seit dem 01.02.2011 hätte beziehen können, wies er sie mit Bescheid vom 29.07.2013 auf die Pflicht zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ab Vollendung des 63. Lebensjahres hin und forderte unter Fristsetzung bis 22.08.2013 zur umgehenden Rentenantragstellung auf. Dagegen legte die Klägerin am 06.08.2013 mit der Begründung Widerspruch ein, auf “ergänzenden Hartz IV-Bezug„ angewiesen zu sein, wenn sie eine solche Altersrente mit Abschlägen beziehen müsste. Mit Bescheid vom 21.10.2013 forderte der Beklagte die Klägerin erneut zur umgehenden Beantragung einer vorzeitigen Altersrente auf und setzte hierzu nochmals eine Frist bis zum 14.11.2013. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 13.11.2013 ebenfalls Widerspruch.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens legte die Klägerin zwei Kurzauskünfte der DRV vor. Danach würde der Klägerin bei Rentenbeginn am 01.02.2014 eine vorzeitige Altersrente für Frauen in Höhe von monatlich 609,42 EUR netto gezahlt (7,2 Prozent Abschlag); bei einem Rentenbeginn am 01.02.2016 betrüge eine abschlagsfreie Altersrente für Frauen auf Basis des Rentenwerts im Zeitpunkt der Auskunft monatlich 655,53 EUR netto.
Der Beklagte wies die Widersprüche gegen die Bescheide vom 29.07.2013 und 21.10.2013 mit Bescheid vom 02.12.2013 zurück. Die Klägerin sei nach § 12a Satz 2 Nr. 1, § 65 Abs. 4 SGB II ab dem 12.01.2014 zur Beantragung einer Altersrente verpflichtet. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente sei nicht unbillig im Sinne des § 13 Abs. 2 SGB II i.V.m. der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV). Auch aus einer Abwägung der Interessen der Klägerin mit den Interessen der Allgemeinheit ergebe sich im Hinblick auf das Gebot der wirtschaftlichen und sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel nicht, dass von der Aufforderung zur Rentenantragstellung abgesehen werden könne. Voraussichtlich würde nicht einmal die abschlagsfreie Altersrente zur Bedarfsdeckung ausreichen, da nach der vorliegenden Auskunft einer Nettorente von 655,53 EUR ein Bedarf von 691,79 EUR (382,00 EUR Regelbedarf zzgl. 309,76 EUR Kosten der Unterkunft und Heizung) gegenüberstehen würde. Es sei somit kein mit dem Bezug einer vorzeitigen Altersrente verbundener unzumutbarer Nachteil erkennbar und damit auch kein Grund, vom Grundsatz der Nachrangigkeit der Grundsicherung...