Leitsatz
Der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die einem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der fragliche Verstoß in einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts besteht, sofern die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem Einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Bei der Entscheidung darüber, ob der Verstoß hinreichend qualifiziert ist, muss das zuständige nationale Gericht, wenn sich der Verstoß aus einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung ergibt, unter Berücksichtigung der Besonderheit der richterlichen Funktion prüfen, ob dieser Verstoß offenkundig ist. Es ist Sache der Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über diesen Schadenersatz zuständig ist. (Amtlicher Entscheidungssatz; Entscheidungssätze 2 und 3 nicht abgedruckt und besprochen.)
Normenkette
Art. 234 EG , § 839 BGB , Art. 34 GG
Sachverhalt
Ein Dozent hatte auf eine Dienstalterszulage geklagt, die er zwar nicht bei seinem Dienstherrn verdient habe, die ihm aber unter Berücksichtigung seiner Tätigkeit an Universitäten in anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zustehe. Er hatte diesen Rechtsstreit verloren. Das letztinstanzlich entscheidende Gericht hatte zunächst ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, dieses dann jedoch zurückgenommen, weil es die Frage anderweit inzident beantwortet meinte. Es hatte deshalb ohne erneute Befragung des EuGH entschieden.
Später hat der EuGH die maßgebliche Rechtsfrage jedoch anders entschieden als von dem nationalen Gericht angenommen. Daraufhin erhob der unterlegene Kläger vor einem nationalen Gericht gegen den betreffenden Mitgliedstaat Klage auf Ersatz des ihm durch die Entscheidung des Gerichts entstandenen Schadens. Er trug vor, das im Vorprozess ergangene Urteil widerspreche den unmittelbar anwendbaren Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, wie sie der EuGH ausgelegt habe.
Das Gericht fragte den EuGH, ob der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die einem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, auch dann anwendbar ist, wenn der Verstoß aus einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts folgt.
Entscheidung
Der EuGH hat diese Frage im Wesentlichen bejaht, im konkreten Streitfall allerdings die Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs verneint, weil die Entscheidung des nationalen Gerichts zwar anders ausgefallen war als später der EuGH entschieden hat, jedoch nicht offenkundig falsch gewesen sei. Denn die maßgebliche Frage sei im Gemeinschaftsrecht nicht ausdrücklich geregelt, vom EuGH zuvor noch nicht beantwortet worden und die Antwort habe auch nicht auf der Hand gelegen.
Hinweis
1. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss ein Mitgliedstaat Schäden, die einem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, ersetzen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind:
Die verletzte Rechtsnorm muss bezwecken, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Der Verstoß muss "hinreichend qualifiziert" sein. Zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.
2. Nach der Rechtsprechung des EuGH war es dabei schon immer unerheblich, von welcher staatlichen Instanz der Verstoß begangen wurde. Der EuGH hatte bisher jedoch nie seine Schadenersatzrechtsprechung auf den Fall angewandt, dass das höchste nationale Gericht in einem Rechtsstreit eine abschließende Entscheidung gefällt hatte und hiervon der geltend gemachte Schaden ausging. Dass auch in diesem besonderen Fall Schadenersatz verlangt werden kann, hat der Gerichtshof in dieser Entscheidung, zu der sich zahlreiche Regierungen in sehr unterschiedlicher Weise geäußert hatten, unter den eingangs genannten – auslegungsbedürftigen – Voraussetzungen bejaht. Der Staat habe die Folgen des von einem seiner Gerichte verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die im nationalen Schadenersatzrecht festgelegten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürften als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sein dürften, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
3. Die Funktion einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung ist an sich, (endgültig) Rechtsfrieden zu schaffen. Dem entspricht das allen Mitgliedstaaten bekannte Institut der Rechtskraft. Es hat gerade dann Bedeutung, wenn die Entscheidung des Gerichts nicht so überzeugend ausgefallen ist, dass aller Widerspruch gegen sie von selbst schweigt, oder wenn dem Gericht sogar mit guten, möglicherweise von vielen geteilten Gründen ein Fehl...