Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer. freizügigkeitsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff. weite Auslegung. Mindestmaß an Teilnahme am Wirtschaftsleben des Aufnahmemitgliedstaates. Berücksichtigung vorrangiger Verpflichtungen
Leitsatz (amtlich)
1. Der freizügigkeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff ist nicht eng auszulegen.
2. Ob eine tatsächlich ausgeübte Tätigkeit völlig untergeordnet und unwesentlich ist und deshalb die Arbeitnehmereigenschaft nicht vermittelt, beurteilt sich nach den Gesamtumständen des Einzelfalls. Dabei sind auch vorrangige Verpflichtungen (hier: Kinderbetreuung, Teilnahme an einem Integrationskurs) zu berücksichtigen, wegen derer die betreffende Person zeitlich nur eingeschränkt am Wirtschaftsleben teilhaben kann.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Abs. 2 S. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nrn. 1, 1a, Abs. 3
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 9. Oktober 2015 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutz dem Grunde nach über die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Die am … 1984 geborene alleinerziehende Antragstellerin zu 1. und ihr am … 2011 geborener Sohn, der Antragsteller zu 2., sind polnische Staatsangehörige. Sie reisten am 4. Mai 2014 nach Deutschland ein. Am 9. Mai 2014 nahm die Klägerin eine Tätigkeit als Haushaltshilfe bei Frau Dr. J. E. (im Weiteren: Frau E.) auf und wurde zum Haushaltsscheckverfahren angemeldet. Sie übte diese Tätigkeit zunächst in einem Umfang von ca. 8 Stunden in der Woche aus und erhielt dafür zunächst 200,00 EUR, dann ab Oktober oder November 2014 300,00 EUR pro Monat. Die Tätigkeit bei Frau E. wurde ausweislich eines seitens der Antragstellerin vorgelegten Haushaltsschecks zunächst zum 28. Februar 2015 beendet und zum 1. Oktober 2015 wieder aufgenommen, wobei eine wöchentliche Arbeitszeit von 3 Stunden bei einem monatlichen Entgelt von 120,00 EUR vereinbart wurde. Für den Zeitraum seit 1. November 2015 liegt ein Haushaltsscheck über ein Arbeitsentgelt von 200,00 EUR/Monat vor.
Bereits am 20. Oktober 2014 hatten die Antragsteller erstmals Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beantragt, die ihnen mit Bescheid vom 21. November 2014 zunächst für den Zeitraum Oktober 2014 bis März 2015 und später mit Folgebescheid vom 2. März 2015 auch für den Zeitraum April bis September 2015 bewilligt worden waren. Seit Mai 2015 nahm und nimmt sie vormittags an einem Integrationskurs teil; zur Teilnahme hatte sie sich dem Antragsgegner gegenüber zuletzt in der Eingliederungsvereinbarung vom 2. April 2015 verpflichtet.
Den erneuten Folgeantrag vom 8. September 2015 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 10. September 2015 ab. Die Antragstellerin zu 1. könne ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein auf die Arbeitsuche stützen und sei daher von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.
Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller am 23. September 2015 Widerspruch eingelegt und am 28. September 2015 beim Sozialgericht Kiel um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 9. Oktober 2015 antragsgemäß dazu verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum 1. Oktober 2015 bis 30. November 2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass neben dem Anordnungsgrund auch der Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht sei. Die Antragsteller erfüllten die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) greife nicht, da die Antragstellerin zu 1. Arbeitnehmerin sei. Die Tätigkeit bei Frau E. seit tatsächlich und echt und stelle sich auch nicht als völlig untergeordnet dar. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der reduzierte Tätigkeitsumfang der Teilnahme am Integrationskurs geschuldet sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 12. Oktober 2015 erhobene Beschwerde des Antragsgegners. Er geht davon aus, dass die Antragstellerin zu 1. ihr Aufenthaltsrecht allein auf den Zweck der Arbeitsuche stützen könne und deshalb keinen Leistungsanspruch habe. Durch die Beschäftigung bei Frau F. habe ein Arbeitnehmerstatus bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht aufrechterhalten werden können, weil die Tätigkeit lediglich knapp 10 Monate angedauert habe. Die nunmehr seit Oktober 2015 erneut ausgeübte Tätigkeit stelle sich ihres geringen Umfangs wegen als völlig untergeordnet und unwesentlich dar. Die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verbiete es, äußere Umstände wie insbesondere die Integration oder freundschaftli...