Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungen für Bildung und Teilhabe. außerschulische Lernförderung. Geeignetheit und Erforderlichkeit. Vorrang der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche. Unmöglichkeit der vollständigen Sachverhaltsaufklärung. Folgenabwägung
Leitsatz (amtlich)
1. Außerschulische Lernförderung ist als Sonderbedarf zu bewerten, der vom Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum erfasst sein kann. Hintergrund für die Leistung ist die Pflicht des Bundes im Rahmen der Fürsorge hilfebedürftige Personen auch im Bildungsbereich mit den notwendigen finanziellen Mitteln auszustatten, sofern der Bedarf nicht anderweitig gedeckt ist.
2. Ist eine vollständige Sachverhaltsaufklärung im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich, muss anhand der Folgenabwägung entschieden werden. Dabei ist die bisherige schulische Entwicklung mit zu berücksichtigen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 7. September 2011 geändert.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Kosten des Antragstellers für einen Einzelunterricht (in der Woche zwei Stunden) bei der Lernwerkstatt in B in Höhe von 130,00 EUR/Monat in der Zeit vom 2. Januar bis 22. Juni 2012 vorläufig in Form eines personalisierten Gutscheins oder einer Direktzahlung an die Lernwerkstatt zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendig entstandenen außergerichtlichen Kosten für das gesamte Verfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vom Antragsgegner die Übernahme der Kosten für einen außerschulischen Nachhilfeunterricht in Höhe von 130,00 EUR monatlich für sechs Monate.
Der am ... 2001 geborene Antragsteller bezieht zusammen mit seiner Mutter, die alleinerziehend ist, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Die Mutter des Antragstellers erzielt Einkommen aus einer Nebenbeschäftigung von rd. 100,00 EUR monatlich. Außerdem erhält sie Pflegegeld in Höhe von 255,00 EUR und Kindergeld für den Antragsteller in Höhe von 184,00 EUR. Unterhalt erhält weder der Antragsteller noch seine Mutter.
Der Antragsteller ist anerkannter Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 60. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen “G„, “B„ und “H„ sind festgestellt (Bescheid des Landesamtes für soziale Dienste vom 15. Juni 2006). Er befindet sich in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung. Sein behandelnder Arzt hat folgende Diagnosen im Februar 2010 gestellt:
- einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,
- kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen,
- testpsychologische Intelligenz im Bereich der Lernbehinderung.
Der Antragsteller besucht eine Integrationsklasse in einer Grundschule in W... Aufgrund der bereits in der 1. Klasse festgestellten Lern-, Leistungs- und Verhaltensprobleme und dem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf erhielt der Antragsteller im Rahmen des schulischen Unterrichts differenzierte Lernangebote in den Fächern Mathematik, Deutsch, HSU und Religion. Außerdem erhielt er im außerschulischen Bereich Unterstützung durch eine Lerntherapeutin. Nach dem im Mai 2010 verfassten sonderpädagogischen Gutachten (Abschlussbericht) benötigt der Antragsteller weiterhin besondere Unterstützung, um Lernangebote annehmen zu können. Die Lernschwierigkeiten seien nicht allein mit Mitteln der Grundschule zu verbessern. Aufgrund der Untersuchungsergebnisse liege ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Lernen “eindeutig„ vor.
Ab April 2009 bis November 2010 nahm der Antragsteller an einer außerschulischen Lerntherapie durch die Dipl.-Pädagogin S... teil. Die Therapie war auf das Lern- und Arbeitsverhalten und auf die fachspezifischen Leistungen gerichtet. Die Schuljahreszeugnisse zeigten eine Verbesserung der Leistungen bei nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten insbesondere in den Fächern Deutsch und Mathematik. Eine Fortführung dieser Therapie erfolgte aus Kostengründen nicht mehr.
Im Juli 2010 beantragte die Mutter des Antragstellers für den Antragsteller beim Kreis R. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in Form einer Lerntherapie auf Grundlage von § 35a Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII). Diesen Antrag lehnte der Kreis R. (Jugendamt) mit bestandskräftigem Bescheid vom 17. November 2010 ab. Zur Begründung führte der Kreis aus, dass nach § 35a Abs. 1 SGB VIII Kinder Anspruch auf Eingliederungshilfe wegen ihrer seelischen Gesundheit haben, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlichen Kenntnissen beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Aufgrund der vorgelegten Diagnosen könne eine solche ...