Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungsmäßigkeit der Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung

 

Orientierungssatz

Die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung ist mit Verfassungsrecht vereinbar. Erwerbsminderungsrentner müssen nach § 77 Abs. 2 SGB 6 eine Absenkung des Zugangsfaktors auch dann hinnehmen, wenn sie bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Die gesetzliche Regelung begrenzt lediglich die Höhe der Rentenabsenkung (BVerfG Beschluss vom 11. 1. 2011, 1 BvR 3588/09).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 22.02.2017; Aktenzeichen B 5 R 31/17 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom 1. April 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Zugunstenverfahren über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors 1,0.

Dem ... 1965 geborene Kläger wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 14. Juni 2006 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab dem 1. Mai 2006 bewilligt, die in der Folgezeit mit Bescheid vom 8. September 2008 bis zum 30. September 2011 und danach mit weiterem Bescheid vom 11. Juli 2011 bis zum 30. September 2014 befristet wurde. Sie berechnete die Rente unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 0,892.

Am 28. Januar 2014 beantragte der Kläger die Überprüfung des Rentenbescheids vom 11. Juli 2011 und begehrte die Neuberechnung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 16. Mai 2006 (Az. B 4 RA 22/05 R), nach der Beziehern von Erwerbsminderungsrenten, die - wie er - das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, eine abschlagsfreie Rente zu gewähren sei.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Februar 2014 und Widerspruchsbescheid vom 5. März 2014 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Minderung des Zugangsfaktors auf 0,892 nicht zu beanstanden sei. Der Beginn der Rente wegen Erwerbsminderung am 1. Mai 2006 liege beim Kläger vor Vollendung des für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebenden Lebensalters von 60 Jahren und 0 Monaten. Der Zeitraum der vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente beginne am 1. Oktober 2025 nach Ablauf des Kalendermonats in dem der Kläger das 60. Lebensjahr vollendet und in der am 30. September 2028 mit Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres. Dieser Zeitraum umfasse 36 Kalendermonate. Der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente gewesen seien, vermindere sich danach um 36 * 0,003 = 0,108 und betrage damit 0,892. Die Minderung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten sei Gegenstand zahlreicher sozialgerichtliche Verfahren und zweier Verfahren beim Bundesverfassungsgericht gewesen. Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) mit dem Grundgesetz vereinbar sei (Beschluss vom 11. Januar 2011 - 1 BvR 3588/09 und 1 BvR 555/09). Danach sei die Minderung der Erwerbsminderungsrente geeignet und erforderlich gewesen, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung sicherzustellen und die Betroffenen im Übrigen nicht übermäßig zu belasten. Dabei sei zu berücksichtigen, dass bei einem Rentenbeginn vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht nur der Zugangsfaktor gemindert, sondern auch die Zurechnungszeit aufgewertet werde. Die Minderung der Rente belaste diese Versicherten deshalb nicht übermäßig. Bei Versicherten mit einem Rentenbeginn ab dem vollendeten 60. Lebensjahr sei die Minderung des Zugangsfaktors gerechtfertigt, weil sonst zu befürchten gewesen sei, dass anstelle einer mit Abschlägen behafteten Altersrente eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente in Anspruch genommen wäre.

Dagegen hat der Kläger am 4. April 2014 Klage beim Sozialgericht Schleswig erhoben und sein Begehren weiterverfolgt.

Er hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 4. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 2014 zu verpflichten, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung mit einem ungekürzten Zugangsfaktor von 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nachdem das Sozialgericht die Beteiligten mit Verfügung vom 15. September 2015 zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört hat, hat es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 1. April 2016 abgewiesen. Die als kombinierter Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zulässige Klage sei unbegründet, weil die angefochtenen Bescheide rechtmäßig seien und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzten. Er habe keinen Anspruch auf Änderung des Rentenbescheids vom 11. Juli 2011 und Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung einer abschlagsfreien Rente mit einem ungekürzten Z...

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