Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Zuschüssen zur Kranken- und Pflegeversicherung. Wechsel des Krankenversicherungsstatus. atypischer Fall. Ermessensausübung. Sozialhilfebedürftigkeit. gesonderte Beurteilung für jeden Aufhebungsmonat

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei rückwirkender Aufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und 4 SGB 10 liegt ein zur Ermessensausübung verpflichtender atypischer Fall vor, wenn die betroffene Person - hätte sie die aufgehobene Leistung nicht erhalten - im betreffenden Zeitraum (vermehrt) sozialhilfebedürftig gewesen wäre (Anschluss an BSG vom 12.12.1995 - 10 RKg 9/95 = SozR 3-1300 § 48 Nr 42).

2. Die seither durch das BSG vorgenommenen Modifikationen des sozialhilferechtlichen Grundsatzes "Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" zwingen nicht zu einer Abkehr von dieser Rechtsprechung.

3. Die Frage, ob die betroffene Person ohne die infolge einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse materiell zu Unrecht erbrachten Sozialleistungen (vermehrt) sozialhilfebedürftig gewesen wäre, ist für jeden Aufhebungsmonat gesondert zu beurteilen. Eine Ermessensentscheidung ist nur wegen der Monate zu treffen, für die der Nachweis vermehrter Sozialhilfebedürftigkeit erbracht ist.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 30.06.2016; Aktenzeichen B 5 RE 1/15 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 10. August 2011 aufgehoben, soweit der Bescheid der Beklagten vom 10. September 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. September 2009 insgesamt und damit auch für die Zeit vor dem 1. Januar 2005 und in Höhe einer Erstattungsforderung von 1.267,78 EUR aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung verpflichtet worden ist.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ein Drittel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids wegen überzahlter Zuschüsse zur freiwilligen Kranken- und zur Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 1.777,03 EUR.

Die am. 1929 geborene Klägerin war bei der Barmer Ersatzkasse freiwillig gesetzlich krankenversichert. Im Rahmen der Rentenantragstellung für die Regelaltersrente beantragte sie am 25. Oktober 1993 bei der Beklagten (Deutsche Rentenversicherung Bund) einen Zuschuss zur Krankenversicherung nach § 106 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

Mit Rentenbescheid vom 2. Mai 1994 bewilligte die Beklagte der Klägerin Regelaltersrente ab 1. Juni 1994 unter Berücksichtigung eines Zuschusses zur freiwilligen Krankenversicherung. Die Rentenhöhe betrug zum damaligen Zeitpunkt monatlich 311,32 DM, der Zuschuss zur Krankenversicherung wurde zunächst in Höhe von monatlich 19,55 DM geleistet. In dem Bescheid wurde die Klägerin u. a. darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf Beitragszuschuss mit der Aufgabe oder dem Ruhen der freiwilligen Krankenversicherung und bei Eintritt der Krankenversicherungspflicht entfalle. Es bestehe daher die gesetzliche Verpflichtung, u. a. jede Änderung des Krankenversicherungsverhältnisses unverzüglich mitzuteilen. Soweit Änderungen Einfluss auf Rentenanspruch oder Rentenhöhe hätten, werde der Bescheid auch rückwirkend aufgehoben; zu Unrecht erbrachte Leistungen würden zurückgefordert. Wegen der Einzelheiten wird auf den Rentenbescheid (Bl. 22 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.

Zum 1. März 1997 wechselte die Klägerin, die gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann noch bis 31. Dezember 2004 einen unter dem Namen "Haus I " firmierenden Hotelbetrieb in K führte, in die Familienversicherung ihres Ehemannes bei der AOK Schleswig-Holstein. Dennoch gewährte die Beklagte der Klägerin weiterhin Beitragszuschüsse für die freiwillige Krankenversicherung und zeitweise auch Zuschüsse zu den Aufwendungen für die Pflegeversicherung (§ 106a SGB VI in der bis zum 31. März 2004 geltenden Fassung) in folgender Höhe:

von bis

Anzahl Monate

monatl. Zuschuss Krankenversicherung

monatl. Zuschuss Pflegeversicherung

März 1997 Juni 1997

 4

19,84 DM

2,52 DM

Juli 1997 Juni 1998

12

20,01 DM

2,56 DM

Juli 1998 Juni 1999

12

21,85 DM

2,73 DM

Juli 1999 Juni 2000

12

22,63 DM

2,85 DM

Juli 2000 Juni 2001

12

24,08 DM

3,03 DM

Juli 2001 Dezember 2001

 6

24,54 DM

3,09 DM

Januar 2002 Juni 2002

 6

12,55 EUR

1,58 EUR

Juli 2002 Juni 2003

12

13,29 EUR

1,62 EUR

Juli 2003 März 2004

 9

13,72 EUR

1,63 EUR

April 2004 Juni 2005

15

13,72 EUR

-,- EUR

Juli 2005 Juni 2007

24

12,76 EUR

-,- EUR

Juli 2007 März 2008

 9

13,41 EUR

-,- EUR

Die in diesem Zeitraum der Klägerin gewährte Altersrente (ohne Beitragszuschüsse) stieg von monatlich 296,02 DM (umgerechnet wären dies 151,35 EUR gewesen) im März 1997 auf 192,86 EUR im Juli 2007 an. Wegen der Beträge für die einzelnen Monate wird auf Bl. 17 ff. der Leistungsakte Bezug genommen. Der verstorbene Ehemann der Klägerin erhielt von der Deutschen Rentenversicherung Nord eine Altersrente, die ab 1. Juli 2003 650,...

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