Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff des Ghettos iS des ZRBG. keine Konzentration jüdischer Menschen in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk aufgrund der geringen Anzahl jüdischer Personen sowie der Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse in kleinen Landgemeinden
Orientierungssatz
1. Zum Begriff des Ghettos iS des ZRBG.
2. Von einem Aufenthalt in einem Ghetto iS des ZRBG kann auch ausgegangen werden, wenn in kleinen Landgemeinden eine Konzentration jüdischer Menschen in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk aufgrund der geringen Anzahl jüdischer Personen sowie der Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse nicht stattgefunden hat und die jüdischen Menschen bei eingeschränkter Bewegungsfreiheit in ihren angestammten Häusern verblieben oder ihnen andere einzelne Häuser zugewiesen wurden, in denen sie leben mussten und die sie nur in Ausnahmefällen verlassen durften.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 und der Bescheid vom 1. Juli 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2012 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Berücksichtigung der Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto vom Januar 1940 bis März 1942 eine Altersrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Sie hat dem Kläger die ihm zur Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Altersrente unter Berücksichtigung von Versicherungszeiten in einem Ghetto nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Dabei geht es maßgeblich darum, ob der Kläger sich in einem Ghetto aufgehalten hat.
Der Kläger ist 1929 in S… in der Nähe von M… in P… geboren. Der Ort hatte damals etwa einhundert Einwohner. Der Kläger ist jüdischen Glaubens. Bis 1942 lebte er in S…. Von April 1942 bis Anfang 1943 wurde er im Zwangsarbeitslager B… inhaftiert, 1943 im Zwangsarbeitslager H… 1943/1944 kam er in das Konzentrationslager M…, 1944/1945 in das Konzentrationslager F…. 1945 wanderte der Kläger nach E… aus; seit 1949 lebt er in den U…, deren Staatsbürger er ist. Er ist als Verfolgter gemäß § 1 Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt und er erhielt eine Entschädigung von der Claims Conference aus dem Artikel 2 - Fonds.
Am 16. März 2010 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto. Hierzu trug er vor, er habe ungefähr von 1941 bis 1942 in R… im Ghetto gelebt und von Januar 1942 bis Dezember 1942 außerhalb des Ghettos zehn bis zwölf Stunden täglich LKWs gereinigt, Küchenarbeiten verrichtet und die Unterkünfte der Offiziere gereinigt. Das Ghetto in R… sei ohne Mauern oder Umzäunung offen gewesen. Trotzdem habe die jüdische Bevölkerung sich nicht frei bewegen können, sondern sei auf den Raum des Ghettos beschränkt gewesen, auch wenn sie außerhalb des Ghettos gearbeitet habe. In dem Fall hätten die Juden das Ghetto morgens verlassen und seien abends zurückgekehrt.
Mit Bescheid vom 1. Juli 2011 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte sie aus, die erforderliche Versicherungszeit von 60 Kalender-monaten für eine Regelaltersrente sei nicht erfüllt. Der Kläger sei von Januar 1941 bis Dezember 1942 nicht während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto beschäftigt gewesen. Es lägen keine Erkenntnisse vor, nach denen in R… (Ha…) ein Ghetto bestanden habe.
Dagegen legte der Kläger am 27. Juli 2011 Widerspruch ein. Die Beklagte sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass es in R…kein Ghetto gegeben habe. R…sei ein kleines Dorf gewesen, in dem ungefähr 8 jüdische Familien gelebt hätten. Im Januar 1941 sei der Ort abgesperrt worden und den Juden sei es nicht mehr erlaubt gewesen, ihn zu verlassen. Seit dem Zeitpunkt habe er im Alter von 12 Jahren mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester in dem Dorf gewohnt. Er habe begriffen, dass sein Überleben und das seiner Familie davon abhinge, dass er sich selbst bei den Deutschen nützlich machte. Daher habe er beschlossen, für sie zu arbeiten und habe ihre LKWs gereinigt, in der Küche gearbeitet und die Offizierswohnungen gesäubert. Er und andere Juden seien hierzu in die drei Ortschaften der Umgebung von M… gefahren worden. Für die Arbeit habe er Extraportionen zu essen erhalten, die in der Zeit, als es nicht genug zu essen gegeben habe, sehr wertvoll gewesen seien. Das Ghetto in R… sei sehr klein gewesen, sodass es kaum in den Büchern Erwähnung gefunden habe, und es sei möglich, dass er der einzige Überlebende sei.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2011 zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach dem Wortlaut des ZRBG setze ein Rentenanspruch voraus, dass die Beschäftigung in einem Ghetto ausgeübt worden sei. Eine ...