Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Nachleistungsbegrenzung iSv § 44 Abs 4 SGB 10. keine Dispositionsbefugnis des Sozialleistungsträgers
Orientierungssatz
Dem Sozialleistungsträger ist es nicht gestattet, die Nachleistungsbegrenzung des § 44 Abs 4 SGB 10 außer Acht zu lassen. Denn diese unterliegt - anders als die Verjährungseinrede gemäß § 45 Abs 1 SGB 1 - nicht dessen Dispositionsbefugnis. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine von Amts wegen zu beachtende materiell-rechtliche Einschränkung des nachträglich bewilligten Anspruchs auf Sozialleistungen für die Vergangenheit, deren Wirkung über diejenige der Verjährung nach § 45 SGB 1 hinausgeht und die einer Ausschlussfrist entspricht. Das gilt insbesondere auch dann, wenn - wie zumeist - den Leistungsträger ein Verschulden an der Nichterbringung der Sozialleistung trifft.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 19. Juli 2001 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte der Klägerin höhere Verletztenrente und Witwenrente für die Zeit vor dem 1. Januar 1994 zu zahlen hat.
Die Klägerin ist Witwe und Sonderrechtsnachfolgerin des 1928 geborenen und 1989 verstorbenen Tischlergesellen S. J. (nachfolgend: S.).
Mit Bescheid vom 25. April 1989 hatte die Beklagte S. wegen einer Berufskrankheit ab 4. August 1988 vorläufige Verletztenrente bewilligt. In dem Bescheid hatte sie unter anderem den 13. Juli 1988 als Tag des Versicherungsfalles sowie einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) im Sinne des § 571 Reichsversicherungsordnung (RVO) in Höhe von 40.618,20 DM festgestellt. Eine Vergleichsberechnung nach § 572 RVO hatte sie nicht durchgeführt.
Mit Bescheid vom 11. Oktober 1989 hatte die Beklagte der Klägerin ab 14. August 1989 Witwenrente bewilligt. In dem Bescheid hatte sie einen JAV im Sinne des § 571 RVO in Höhe von 41.593,04 DM festgestellt. Eine Vergleichsberechnung nach § 572 RVO hatte sie wiederum nicht durchgeführt.
Mit Schriftsatz vom 2. Februar 1998 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die unterbliebene Vergleichsberechnung des JAV nach § 572 RVO nachzuholen und hierüber einen Bescheid zu erteilen.
Mit Bescheid vom 15. Juli 1999 stellte daraufhin die Beklagte den JAV gemäß § 572 RVO mit 29.230,82 DM zum Tage der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit (13. Dezember 1974) und 49.540,26 DM zum Tag des Versicherungsfalles neu fest und nahm den Bescheid vom 25. April 1989 insoweit gemäß § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) zurück. Eine Nachzahlung höherer Verletztenrente lehnte sie hingegen unter Hinweis auf § 44 Abs. 4 SGB X ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Der Antrag auf die Überprüfung des JAV sei mit Schreiben vom 2. Februar 1998 gestellt worden. Sozialleistungen seien daher rückwirkend erst ab 1. Januar 1994 zu erbringen.
Mit weiterem Bescheid vom 15. Juli 1999 stellte die Beklagte den JAV gemäß § 572 RVO mit 29.230,82 DM zum Tag der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit (13. Dezember 1974) neu fest, nahm den Bescheid vom 11. Oktober 1989 insoweit gemäß § 44 SGB X zurück und bewilligte der Klägerin für die Zeit ab 1. Januar 1994 höhere Witwenrente. Eine Nachzahlung für die Zeit vor dem 1. Januar 1994 lehnte sie hingegen (sinngemäß) ebenfalls unter Hinweis auf § 44 Abs. 4 SGB X ab. Zur Begründung verwies sie wiederum auf den Überprüfungsantrag vom 2. Februar 1998.
Die deswegen erhobenen Widersprüche der Klägerin wies die Beklagte mit zwei Widerspruchsbescheiden vom 21. Oktober 1999 zurück. Zur Begründung bezog sie sich im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide. Ergänzend führte sie aus: Die Frist des § 44 Abs. 4 SGB X sei eine Ausschlussfrist. Die Leistungseinschränkung bestehe grundsätzlich unabhängig von einem Verschulden des Sozialleistungsträgers. Die Regelung sei nicht verfassungswidrig.
Mit ihrer deswegen am 12. November 1999 bei dem Sozialgericht Lübeck erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Die Bescheide vom 25. April 1989 über Verletztenrente und 11. Oktober 1989 über Witwenrente hätten keinerlei Entscheidung zur Anwendung des § 572 RVO enthalten. Die Feststellungsverfahren seien insofern noch nicht abgeschlossen. Mithin handele es sich ersichtlich nicht um Fallgestaltungen im Sinne des § 44 SGB X, so dass die vierjährige Ausschlussfrist nicht gelte.
Die Klägerin hat beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 1999 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten S. J. eine höhere Verletztenrente für die Zeit vom 4. August 1988 bis zum 31. August 1989 zu gewähren,
2. den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 1999 zu ändern und die Bekl...