Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Anspruch auf Versorgung mit einem elektromotorunterstützten Rollstuhl-Zuggerät. Krankenbehandlung. Behinderungsausgleich. fehlende Notwendigkeit. Eingliederungshilfe. Ermöglichung sozialer Teilhabe
Leitsatz (amtlich)
1. Ein elektromotorunterstütztes Rollstuhl-Zuggerät kann iSd § 33 Abs 1 S 1 Alt 1 SGB V erforderlich sein, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere seiner Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat und die durch das beanspruchte Zuggerät unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz infolge der eigenen Betätigung geringer ausfällt. Dies kann nur angenommen werden, wenn der verordnende Arzt - ggf auf gerichtliche Nachfrage - darlegt, welche konkreten Ziele mit der physikalischen Therapie erreicht werden sollen, um sodann nachvollziehbar zu beschreiben, inwiefern das Rollstuhlzuggerät die Erreichung dieser Ziele in medizinischer Hinsicht fördert.
2. Ein Rollstuhl-Zuggerät, mit dem die Erreichung von Geschwindigkeiten von über 6 km/h durch einen geräteimmanenten Elektromotor unterstützt wird, überschreitet im Rahmen des Ausgleichs einer Geh- bzw Mobilitätsbehinderung (§ 33 Abs 1 S 1 Alt 3 SGB V) stets das Maß des Notwendigen iSd § 12 Abs 1 S 1 SGB V (BSG vom 30.11.2017 - B 3 KR 3/16 R = SozR 4-2500 § 139 Nr 9). Wenn besondere medizinische Aspekte im Einzelfall es erfordern, dass dem behinderten Versicherten eine über den Nahbereich seiner Wohnung hinausgehende Mobilität ermöglicht wird, kann aber ausnahmsweise gleichwohl ein Anspruch auf Versorgung mit einem solchen Zuggerät bestehen.
3. Ein an einer Gehbehinderung leidender Versicherter kann ein elektromotorunterstütztes Rollstuhl-Zuggerät nach §§ 102 Abs 1 Nr 4, 113 Abs 1 und 2 Nr 8, 84 Abs 1 SGB IX (juris: SGB 9 2018) als Hilfsmittel zum Zwecke der sozialen Rehabilitation beanspruchen, wenn es erforderlich ist, um eine vom Versicherten konkret dargelegte Beeinträchtigung seiner sozialen Teilhabe auszugleichen. Unter mehreren zur Förderung der sozialen Teilhabe gleich geeigneten Leistungen kann der Versicherte diejenige beanspruchen, die ihm das höchste Maß an Selbstbestimmung lässt. Der Ausgleich einer sozialen Teilhabebeeinträchtigung in diesem Sinne kann auch darin bestehen, dass dem Versicherten gerade ein über den Wohnungsnahbereich hinausgreifendes Maß an Mobilität ermöglicht wird. Eine Begrenzung der Leistungspflicht des zuständigen Rehabilitationsträgers auf Rollstuhlzuggeräte, die maximal eine Geschwindigkeit von 6 km/h elektromotorisch unterstützen, besteht in einem solchen Fall nicht.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 29. November 2016 und der Bescheid der Beklagten vom 12. September 2013 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 30. April 2014 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit dem Handkurbel-Rollstuhl-zuggerät „Speedy-Versatio“ (26 Zoll) zu versorgen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Klägers im Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Versorgung mit dem elektromotorunterstützten Handkurbel-Rollstuhlzuggerät „Speedy Versatio“ als Hilfsmittel zum Ausgleich seiner Behinderung.
Bei dem am 25. Januar 1981 geborenen, als Mitglied der Beklagten gesetzlich krankenversicherten Kläger besteht infolge eines Verkehrsunfalls am 3. Januar 2004, bei dem der Kläger Frakturen der Brustwirbelkörper Th5 bis Th8 erlitt, eine komplette Querschnittslähmung im thorakalen Rückenmark. Bei dem Kläger bestehen ausgeprägte Spastiken der Muskulatur des Beckenbodens und der Beine (spastische Paraplegie), ferner ist durch Spastiken der Harnblase deren Funktion beeinträchtigt, auch besteht infolge der Unfallverletzung eine neurogene (Mast-) Darmstörung mit zeitweiliger Stuhlinkontinenz. Der Kläger leidet bei beeinträchtigter Bauch- und Rumpfmuskulatur an chronischen Rückenschmerzen und an rezidivierenden depressiven Störungen unterschiedlicher Schweregrade. Er lebt alleine in einer barrierefreien Erdgeschosswohnung und erhält zweimal täglich Hilfe bei der Grundpflege durch einen ambulanten Pflegedienst, zudem noch zwei- bis dreimal täglich durch seine Mutter als private Pflegeperson. Insoweit erhält der (mit einem GdB von 100 schwerbehinderte) Kläger aktuell Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gemäß des Pflegegrades 3. Versorgt ist der Kläger mit einem mechanisch durch Armkraft anzutreibenden Aktiv- bzw. Greifreifenrollstuhl, ohne welchen er sich nicht fortbewegen kann (insbesondere ist er nicht selbständig gehfähig). 2010 wurde die von dem Kläger aufgenommene Ausbildung zum Fachangestellten für Arbeitsförderung durch den Ausbildungsbetrieb beendet. Im Anschluss daran bezog der Kläger zunächst laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buc...