Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld. fiktive Bemessung nach Qualifikationsgruppen im Anschluss an Erziehungszeiten. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität

 

Orientierungssatz

1. Hat eine Mutter wegen längerer freiwilliger Unterbrechungen ihres Berufslebens wegen Kindererziehung im erweiterten Bemessungsrahmen von zwei Jahren nicht wenigstens für die Dauer von 150 Tagen Anspruch auf Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, so führt § 150 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 3 dazu, dass nach § 152 Abs 1 SGB 3 ein fiktives Arbeitsentgelt als Bemessungsentgelt zugrunde zu legen ist.

2. Dies verstößt weder gegen Verfassungs- noch Gemeinschaftsrecht.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 18. November 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt höheres Arbeitslosengeld (ALG).

Die 1975 geborene Klägerin ist Veterinärmedizinerin. Vom 1. August 2005 bis zum 31. Oktober 2013 war sie als Außendienstmitarbeiterin bei dem Tierfutterhersteller, der Firma “... GmbH„, beschäftigt. Die Klägerin ist Mutter des am 16. Januar 2011 geborenen Sohnes ..., der am 18. Januar 2012 geborenen Tochter ... und des am 12. Juni 2013 geborenen Sohnes .... Sie befand sich in der Zeit vom 2. Dezember 2010 bis 17. Januar 2013 sowie vom 14. Mai 2013 bis 31. Oktober 2013 im Mutterschutz bzw. in Elternzeit und bezog vom 16. Februar 2011 bis zum 15. Januar 2012, vom 18. Januar 2012 bis zum 17. Januar 2013 sowie vom 12. August 2013 bis zum 11. Juni 2014 Elterngeld. In der Zeit vom 18. Januar 2013 bis zum 13. Mai 2013 galt für die mit erheblichen Fahrzeiten verbundene Tätigkeit als Gebietsrepräsentantin ein Beschäftigungsverbot; das beitragspflichtige Bruttoarbeitsentgelt betrug während dieser Zeit monatlich 4.875,00 EUR.

Auf Veranlassung des Arbeitgebers beendete die Klägerin das Arbeitsverhältnis mit Aufhebungsvertrag vom 1. Juli 2013 zum 31. Oktober 2013. Nachdem sich die Klägerin am 14. März 2014 mit Wirkung zum 12. Juni 2014 bei der Beklagten arbeitslos gemeldet hatte, bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 15. Mai 2014 ALG für 360 Kalendertage in Höhe von täglich 45,63 EUR; der Berechnung legte sie ein fiktives Arbeitsentgelt gem. § 152 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) entsprechend der Qualifikationsgruppe 1 (Ausbildung an einer Hochschule oder Fachhochschule erforderlich) zugrunde. Die Klägerin bezog ALG bis zum 31. Dezember 2014; seit dem 1. Januar 2015 ist sie als Tierärztin in einer Kleintierpraxis in Hamburg (“....„) selbständig tätig.

Mit dem am 12. Juni 2014 gegen die Bewilligungsentscheidung eingelegten Widerspruch wandte sich die Klägerin gegen die fiktive Bemessung des ALG. Sie habe während ihres Beschäftigungsverhältnisses für das Unternehmen ... GmbH vom 1. August 2005 bis zum 31. Oktober 2013 drei Kinder geboren und für jedes dieser Kinder jeweils ein Jahr Elternzeit genommen und Elterngeld bezogen. Zwischen der zweiten und dritten Elternzeit habe sie ihre Tätigkeit bei der Firma ... GmbH wieder aufgenommen; ihre Einkommensverhältnisse seien gegenüber denen vor der ersten Elternzeit unverändert geblieben. Es bestehe daher keine Notwendigkeit, das ALG auf der Basis eines fiktiven Arbeitsentgelts zu berechnen. Allein aufgrund der Tatsache, dass sie drei Kinder geboren und diese entsprechend dem gesetzgeberischem Willen im ersten Jahr auch in Vollzeit betreut habe, dürfe sie nicht gegenüber anderen benachteiligt oder diskriminiert werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Nach § 151 Abs. 1 SGB III sei Bemessungsentgelt das durchschnittlich auf den Tag entfallene Arbeitsentgelt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt habe. Könne ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens - wie hier bei der Klägerin - nicht festgestellt werden, sei als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, § 152 SGB III. Im erweiterten Bemessungsrahmen vom 12. Juni 2012 bis zum 11. Juni 2014 seien keine 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt festzustellen (18. Januar 2013 bis zum 13. Mai 2013 = 116 Tage). Daher sei der Bemessung ein fiktives Arbeitsentgelt nach der Qualifikationsgruppe 1 zugrunde zu legen, weil sich die Vermittlungsbemühungen für die Klägerin in erster Linie auf Beschäftigungen dieser Qualifikationsgruppe erstreckten.

Dagegen hat die Klägerin am 14. Juli 2014 bei dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben und zur Begründung ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft. Die der Berechnung des ALG zugrundeliegende Vorschrift sei verfassungswidrig. Es liege ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und gegen Art. 6 Abs. 1 GG vor. Die Ausführungen d...

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