Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Versäumung der Widerspruchsfrist. Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung. Fehlen eines Hinweises auf die Möglichkeit der Widerspruchseinlegung in elektronischer Form nach dem 1.1.2018. keine Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung bei noch nicht eröffnetem Zugang zum elektronischen Rechtsverkehr. keine konkludente Eröffnung eines Zugangs bzw eines Zugangs kraft Rechtsschein durch Angabe einer E-Mail-Adresse im Briefkopf des Bescheids
Orientierungssatz
1. Seit dem 1.1.2018 wird in § 84 Abs 1 SGG ausdrücklich bestimmt, dass der Widerspruch "…in elektronischer Form nach § 36a Abs 2 des Ersten Sozialgesetzbuchs…", also mit qualifizierter elektronischer Signatur, eingereicht werden kann. Damit wird deutlich, dass die elektronische Form zumindest seit dem 1.1.2018 neben der Schriftform und der mündlichen Form (zur Niederschrift) als gleichrangige prozessuale Form und damit als weiterer Regelweg - im Gegensatz zur alten Rechtslage (vgl hierzu BSG vom 14.3.2013 - B 13 R 19/12 R = SozR 4-1500 § 66 Nr 3) - angesehen werden kann. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur und auch in der Rechtsprechung erst- und zweitinstanzlicher Gerichte inzwischen die Auffassung vertreten, dass der Entscheidung des BSG vom 14.3.2013 - B 13 R 19/12 R aaO - seit dem 1.1.2018 nicht mehr gefolgt werden könne, sofern die jeweilige Behörde den elektronischen Rechtsverkehr tatsächlich ("soweit") eröffnet hat, § 36a SGB 1.
2. Zur Überzeugung des Senats führt der fehlende Hinweis auf die Möglichkeit der Einreichung eines Widerspruchs in elektronischer Form gemäß § 36a Abs 2 SGB 1 vorliegend nicht zur Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung und zur verlängerten Frist des § 66 Abs 2 S 1 SGG, da die Behörde bei Bescheiderlass den Zugang zum elektronischen Rechtsverkehr noch nicht eröffnet hatte und war auch nicht im Adressverzeichnis des elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) gelistet war.
3. Unter Berücksichtigung der vom BSG hervorgehobenen Wegweiserfunktion der Rechtsmittelbelehrung ist in der Angabe der E-Mail-Adresse der Behörde im Briefkopf des Bescheids keine konkludente Eröffnung eines Zugangs nach § 36a Abs 1 SGB 1 bzw ein Zugang kraft Rechtsschein zu erkennen.
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Oktober 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen drei Aufhebungs- und Erstattungsbescheide, mit denen der Beklagte insgesamt 2.810,40 EUR überzahlter Leistungen für die Zeit vom 1. September 2017 bis 30. November 2017 erstattet verlangt. Streitig ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, ob die Kläger fristgemäß Widerspruch gegen die Bescheide erhoben haben.
Die Kläger sind syrische Staatsangehörige und im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz. Der Kläger zu 1) ist 1966 geboren und mit der 1978 geborenen Klägerin zu 2) verheiratet. Gemeinsam mit den Kindern, der 1997 geborenen Tochter Y. (Klägerin zu 3.), dem 2000 geborenen Sohn A. (Kläger zu 4.), der 2005 geborenen Tochter L. (Klägerin zu 5.) und dem 2010 geborenen Sohn M. (Kläger zu 6.) standen sie im streitgegenständlichen Zeitraum im Leistungsbezug des Beklagten nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Mit Bewilligungsbescheid vom 7. Juni 2017 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 8. Juni 2017 und 22. Juni 2017 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen für die Zeit von Juni 2017 bis Mai 2018. Mit Wirkung vom 11. September 2017 nahm der Kläger zu 1) bei der Firma m eine Tätigkeit als Produktionshelfer im Umfang von 40 Stunden/Woche und einem Festgehalt von 1.750,00 EUR brutto auf. Mit Änderungsbescheid vom 24. Oktober 2017 passte der Beklagte ab Dezember 2017 die Leistungen den geänderten wirtschaftlichen Voraussetzungen unter Berücksichtigung eines fiktiven anrechenbaren Einkommens in Höhe von 1.170,00 EUR an. Mit E-Mail vom 9. November 2017 übersandte der nach eigenen Angaben von den Klägern bevollmächtigte Familienhelfer, der seniorTrainer R, die Verdienstbescheinigungen vom September 2017 (brutto 1.166,67 EUR/netto 835,61 EUR; zugeflossen am 28. September 2017) und von Oktober 2017 (brutto 1.750,00 EUR/ netto 1.253,23 EUR; zugeflossen am 30. Oktober 2017) einschließlich der Kontoauszüge zum Nachweis des Einkommenszuflusses. Die Verdienstbescheinigung für November 2017 weist ein Bruttogehalt von 2.284,72 EUR (einschließlich Weihnachtsgeld in Höhe von 534,72 EUR) entsprechend einem Nettoverdienst von 1.678,20 EUR aus.
Nach Anhörung der Klägerinnen zu 2) und zu 3) sowie des Klägers zu 1), dieser auch als gesetzlicher Vertreter der seinerzeit minderjährigen Kläger zu 4) bis 6), hob der Beklagte die ursprünglichen Bewilligungen für die Zeit vom 1.September 2017 bis 30. November 2017 mit drei (individualisierten) Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden ...