Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit einer gesetzlichen Spezialkammer aufgrund Aufrechnung
Leitsatz (amtlich)
Eine gesetzliche Sonderzuständigkeit nach § 72a Abs. 1 GVG besteht nur, wenn ein dort bezeichnetes Sachgebiet Streitgegenstand ist. Die Aufrechnung mit einer Forderung aus einem Rechtsverhältnis des § 72a Abs. 1 GVG begründet nicht bereits die Zuständigkeit der darauf spezialisierten Zivilkammer.
Normenkette
GVG §§ 13, 72a Abs. 1 Nr. 2, § 99 Abs. 1, 2 S. 2; ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
Tenor
Als funktionell zuständiger Spruchkörper wird die Zivilkammer X des Landgerichts Z bestimmt.
Gründe
Die Zivilkammern X und Y des Landgerichts Z streiten über die funktionelle Zuständigkeit für einen Rechtsstreit, in dem die Beklagte gegen die Klageforderung, die die Bezahlung von Baustofflieferungen betrifft, unter anderem mit Werklohnforderungen für die Errichtung von Fertighäusern aufrechnet.
Zwischen der Klägerin, die einen Baustoffhandel betreibt, und der Beklagten, die Fertighäuser errichtet, bestand eine längere Geschäftsbeziehung. In diesem Rahmen veräußerte die Klägerin an Dritte Fertighäuser, die die Beklagte für sie "durchkalkuliert" hatte und mit Baumaterialien errichtete, die sie wiederum von der Klägerin bezog. Die Baustofflieferungen an die Beklagte wurden von den jeweiligen Bauherren bezahlt, die Vergütung der von der Beklagten erbrachten Bauleistungen übernahm im Innenverhältnis die Klägerin. Parallel dazu errichtete die Beklagte in eigener Regie Fertighäuser, für die sie von der Klägerin lediglich die Baustoffe bezog und sich selbst in Rechnung stellen ließ.
Mit ihrer bei dem Landgericht Z erhobenen Klage nimmt die Klägerin die Beklagte im Wesentlichen darauf in Anspruch, Restzahlungen für Baustofflieferungen für deren eigene Projekte aus den Jahren 2017 bis 2019 mit einem Gesamtbetrag von 150.203,13 Euro zu leisten. Die Beklagte behauptet, sie habe zugunsten der Klägerin weitere Zahlungen erbracht. Ein Teil der in Rechnung gestellten Baustoffe sei ihr nicht geliefert worden. Zudem ständen ihr gegen die Klägerin hinsichtlich mehrerer Bauvorhaben noch offene Werklohnforderungen und ein Schadensersatzanspruch wegen vorzeitiger Beendigung der Kooperation zu. Sie macht geltend, dass all diese Positionen von der Klageforderung "abzuziehen" seien.
Der Rechtsstreit ist als allgemeine, keiner Sonderzuständigkeit unterfallende Zivilsache turnusmäßig der Zivilkammer X des Landgerichts Z zugewiesen worden. Diese hat nach Eingang von Klagerwiderung und Replik die Zivilkammer Y des Landgerichts, die nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts unter anderem für Streitigkeiten aus Bau- und Architektenverträgen sonderzuständig ist, vergeblich um Übernahme der Sache gebeten. Sodann hat sie sich nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 19. Mai 2021 für funktional unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an die Zivilkammer Y verwiesen. Zur Begründung heißt es in dem - beiden Parteien übermittelten - Beschluss, das Verfahren sei, da die Klägerin die Zahlung von Baustofflieferungen begehre, zwar zunächst richtig über den Turnus zugewiesen worden. Da die Beklagte mit der Klageerwiderung aber unter anderem mit Werklohnforderungen aus Bauverträgen aufgerechnet habe, handele es sich nunmehr um eine "Streitigkeit aus Bauverträgen" im Zusammenhang mit Bauleistungen i. S. d. § 72a Abs. 1 Nr. 2 GVG und des Geschäftsverteilungsplans, für die die Zivilkammer Y des Landgerichts sonderzuständig sei. Dem stehe nicht entgegen, dass die Voraussetzungen für die Sonderzuständigkeit erst nachträglich durch die mit der Klageerwiderung erklärte Hauptaufrechnung erfüllt worden seien. Der Beschluss verweist in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Kammergerichts vom 19. Oktober 2020 (2 AR 1038/20), wonach eine Sonderzuständigkeit nach § 72a GVG auch dann begründet sei, wenn ein darunter fallender Anspruch erst nachträglich durch eine Klageerweiterung oder eine Widerklage in den Rechtsstreit eingeführt werde. Die Begründung des Kammergerichts trage auch den vorliegenden Fall der Hauptaufrechnung, weil es für den Normzweck - verbesserte Qualität der Entscheidungen durch eine häufigere Befassung mit einer bestimmten Materie - unerheblich sei, ob die Voraussetzungen für eine Sonderzuständigkeit bereits bei Erhebung der Klage vorlägen oder erst später einträten. Die Rechtshängigkeitssperre des § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO stehe dem nicht entgegen, weil diese nur für das Gericht als solches und nicht für dessen Abteilungen und Spruchkörper gelte.
Die Zivilkammer Y des Landgerichts hat sich mit - den Parteien ebenfalls mitgeteiltem - Beschluss vom 9. Juni 2020 für funktionell unzuständig erklärt und das Verfahren dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers vorgelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die besseren Argumente sprächen dafür, im Falle der Aufrechnung - anders als bei einer Widerklage wie in dem dem Kammergericht zugrunde liegenden Fall - keine nachträgliche Abgabe von Rechtsstreiti...