Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftungsquote für die Zweitkollision, wenn sich die Geschwindigkeitsüberschreitung des Erstgeschädigten nur auf die Zweitkollision ursächlich ausgewirkt hat
Leitsatz (amtlich)
1. Allein der Umstand, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung bei der Beurteilung der Haftung für die Erstkollision - als hierfür nicht mitursächlich - außer Betracht bleiben muss, bedeutet nicht, dass sie für die Zweitkollision nicht nach den allgemeinen Grundsätzen der Haftungsverteilung zu berücksichtigen ist. Es bedarf dafür keineswegs eines erst nach der Erstkollision neu hinzugekommenen Verursachungsbeitrages, vielmehr genügt ein bereits vor der Erstkollision gesetzter Verursachungsbeitrag.
2. Ein unfallursächliches Verschulden des Fahrzeugführers ist anzunehmen, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn es dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßen Fahrweise zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Unfallstelle zum Stehen zu bringen, wenn er den PKW aber so stark hätte abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den Gefahrenbereich noch rechtzeitig zu verlassen.
3. Die Annahme einer Haftungsquote (§ 17 StVG) von jeweils 50 % für die Folgen der Zweitkollision ist gerechtfertigt. Die ohnehin gegenüber dem PKW höhere Betriebsgefahr eines fast 36 t schweren Sattelzuges ist durch dessen erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (§ 3 StVO; hier 75 - 78 km/h bei erlaubten 60 km/h) deutlich erhöht. Dem steht der Verstoß des Erstschädigers gegen das Rechtsfahrgebot (§ 2 Abs. 2 StVO) gegenüber. Letzterer Verstoß war zwar das auslösende Ereignis für die Erstkollision, für die nachfolgende Zweitkollision und die dadurch verursachten Schäden sind jedoch beide Fahrzeughalter gleichermaßen verantwortlich.
Normenkette
BGB § 387; StVG § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 2; StVO § 2 Abs. 2-3; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1; ZGB NLD Art. 962 Abs. 1
Tenor
I. Die Klägerin wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.
III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 33.751,87 EUR festzusetzen.
Gründe
I. Die Parteien streiten um die Haftung aus einem Verkehrsunfall vom 19.10.2017 gegen 7:20 Uhr auf der Bundesstraße XXX zwischen R. und G.. Der bei der Klägerin kaskoversicherte LKW-Sattelzug mit niederländischem Kennzeichen fuhr in Richtung G., als der in die Gegenrichtung - Richtung K. - fahrende, bei dem Beklagten haftpflichtversicherte PKW VW Golf Cabrio auf die Gegenfahrbahn geriet und mit dem LKW mit geringer Überdeckung frontal kollidierte. Der LKW geriet hierdurch seinerseits nach links auf die Gegenfahrbahn und kollidierte dort frontal mit einem hinter dem PKW VW Golf Cabrio fahrenden PKW Fiat Doblo, dessen Fahrerin infolge des Unfalls verstarb.
Die Einsatzleitstelle beauftragte ein Unfallrekonstruktionsgutachten der DEKRA (Gutachter B.Eng. R.), das am 03.05.2018 erstattet wurde. Im Auftrag des Beklagten wurde am 31.10.2018 ein Ergänzungsgutachten der DEKRA (Gutachter Dipl.-Ing. E.) erstattet.
Die Ergebnisse der Gutachten wurden von den Parteien nicht angegriffen. Danach betrug die Kollisionsgeschwindigkeit des PKW VW Golf Cabrio 77 - 80 km/h bei erlaubten 100 km/h, die Bremsausgangsgeschwindigkeit des LKWs bei der ersten Kollision 75 - 78 km/h bei erlaubten 60 km/h (erste Kollision), die Kollisionsgeschwindigkeit des PKW Fiat Doblo 77 - 89 km/h und die Kollisionsgeschwindigkeit des LKWs bei der zweiten Kollision 50 - 54 km/h. Aufgrund der Erstkollision war der LKW nicht mehr lenkbar und verlor an Bremskraft; die mittlere Verzögerung auf der Fahrbahn betrug 3,0 m/s2.
Nach den Ausführungen des Gutachters Dipl.-Ing. E. wäre der LKW bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h vermutlich weniger beschädigt und noch lenkbar gewesen; technisch sicher feststellbar sei dies aber nicht. Allerdings wäre der LKW aufgrund der geringeren Ausgangsgeschwindigkeit deutlich später (ca. 1 Sekunde) und mit deutlich geringerer Geschwindigkeit (24 km/h statt mindestens 50 km/h) an der Zweitkollisionsstelle angekommen, so dass der PKW Fiat Doblo durch den Zeitverzug bereits 21 - 22 m weitergefahren wäre. Die Zweitkollision hätte dann also so nicht mehr stattgefunden und wäre zeitlich vermeidbar gewesen...