Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Verletzung von Treuepflichten eines Vollkaskoversicherers bei Nichtherausgabe eines bereits eingeholten Schadensgutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein nicht einstandspflichtiger Vollkaskoversicherer verletzt gegenüber dem Versicherungsnehmer, dem er ein ihm vorliegendes Schadensgutachten nicht unaufgefordert übersendet, weder eine versicherungsvertragliche noch eine leistungsunabhängige Rücksichts- oder leistungsbezogene Treuepflicht.

2. Ein Vollkaskoversicherer ist nach § 810 BGB jedenfalls nicht ohne Geltendmachung eines Einsichtsrechts durch den Versicherungsnehmer verpflichtet, diesem Einsicht in ein Schadensgutachten zu gewähren oder ihm dasselbe zu überlassen.

3. Stellt der Vollkaskoversicherer ein Schadensgutachten auf Anforderung nicht zur Verfügung, kann dies eine Treuepflichtverletzung darstellen.

4. Die Treuepflicht endet nicht mit der Leistungsablehnung durch den Vollkaskoversicherer.

 

Normenkette

BGB § 241 Abs. 2, §§ 242, 280 Abs. 1, § 810

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 22. November 2019, Az. 5 O 66/19, wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das angefochtene Urteil ist ebenso wie das gegenständliche Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch, weil die Beklagte ihm ein von ihr nach einem gemeldeten Verkehrsunfall eingeholtes Schadensgutachten nicht bzw. seiner Leasingvertragspartnerin erst verspätet zur Verfügung gestellt habe.

Der Kläger schloss mit der Beklagten im Jahre 2015 einen Kfz-Haftpflichtversicherungsvertrag und einen Kaskoversicherungsvertrag für ein von ihm über die V. Financial Services von der S. Leasing GmbH geleastes Kraftfahrzeug des Typs Volvo XC90 ab. Ende Dezember 2017 wurde das Fahrzeug bei einem vom Kläger verschuldeten Unfall erheblich beschädigt. Der Kläger hatte bei dem Unfall einen Blutalkoholwert von 2,32 Promille. Bei der Unfallmeldung gab der Kläger gegenüber der Beklagten nicht an, zum Unfallzeitpunkt unter Alkoholeinfluss gestanden zu haben. Anfang Januar 2018 holte die Beklagte ein Sachverständigengutachten über die Höhe der am Fahrzeug eingetretenen Schäden ein. In einer E-Mail vom gleichen Tage (Anlage K1, GA 7) teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie das Gutachten nach Erhalt an ihn weiterleiten würde. Am 10. Januar 2018 wandte sich die Leasinggeberin an die Beklagte und bat u. a. um die Zurverfügungstellung des Sachverständigengutachtens (Anlagenkonvolut B3, GA 56).

Das von der Beklagten in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten vom 30. Januar 2018 wies Reparaturkosten in Höhe von 43.015,51 EUR netto, einen Wiederbeschaffungswert von 57.900 EUR brutto sowie einen Restwert in Höhe von 26.560 EUR brutto (22.319,33 EUR netto) aus. Dem Sachverständigen lag ein verbindliches, bis zum 19. Februar 2018 befristetes Angebot zum Ankauf des Fahrzeugs zu diesem Betrag vor.

Die Klägervertreter baten die Beklagte per E-Mail vom 8. Februar 2018 (Anlage K9, GA 79) um Mitteilung, ob sie den Vollkaskoschaden an die Leasinggeberin ausgezahlt habe. Mit Schreiben vom 20. Februar 2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass wegen des von ihm unter Alkoholeinfluss verursachten Unfalls nach den allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung ein Versicherungsschutz nicht bestehe (Anlage B4, GA 64). Daraufhin wandte sich der Kläger über seine Prozessbevollmächtigten am 26. Februar 2018 erneut an die Beklagte und bat um Übersendung des eingeholten Gutachtens. Am Folgetag lehnte die Beklagte wegen des fehlenden Versicherungsschutzes die Übermittlung von Schadensunterlagen ab. Auf ein weiteres Schreiben der Leasinggesellschaft vom 26. April 2018 (Anlage B3, GA 94) stellte sie es dieser im Mai 2018 zur Verfügung, die es später an den Kläger weiterreichte. Das Fahrzeug wurde am 7. Juni 2018 durch die Leasinggeberin zu einem Kaufpreis von 15.768,39 EUR netto veräußert (Abrechnung siehe Anlage K4, GA 13). Für die Zeit vom 1. März 2018 bis zum 13. Juni 2018 stellte die P. GmbH dem Kläger Standkosten in Höhe von insgesamt 882,00 EUR netto in Rechnung (Anlagenkonvolut K3, GA 9ff).

Der Kläger hat die Beklagte auf Zahlung der Differenz zwischen dem erlösten Restwert und dem dem Sachverständigen bei seiner Gutachtenerstattung vorliegenden verbindlichen Ankaufsangebot sowie auf Ersatz der Standgebühren, zusammen 7.432,94 EUR netto, und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Anspruch genommen.

Er hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte aufgrund einer vertraglichen Nebenpflicht das Gutachten an ihn habe weiterleiten müssen, damit er das notleidend gewordene Leasingverhältnis hätte abrechnen können. In der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2019 hat er die Behauptung aufgestellt, dass sich das verbindliche höchste Kaufangebot aus dem Schadensgutachten, welches bis zum 19. Februar 2018 befristet gewesen sei, noch hätte realisieren lassen, wenn die Beklagte ihm das Gutachten auf die A...

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