Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Pflichtwidrigkeit unterlassener Fixierung einer Heimbewohnerin

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Heimbetreiberin ist nicht ohne weiteres verpflichtet, die Fixierung einer sturzgefährdeten Heimbewohnerin zu veranlassen, wenn es im Übrigen im wohlverstandenen Interesse der Heimbewohnerin lag, ihren Alltag möglichst dem üblichen Heimablauf anzugleichen, um ihr einen festen Orientierungsrahmen zu bieten und ihr soziale Kontakte zu ermöglichen.

2. Selbst bei Annahme einer Pflichtwidrigkeit steht einer Haftung der Heimbetreiberin auf Schadensersatz in aller Regel entgegen, dass nicht fest steht, ob ein Betreuer tatsächlich ebenfalls eine Fixierung befürwortet und die erforderliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung (§ 1906 IV BGB) erhalten hätte.

 

Verfahrensgang

LG Lübeck (Urteil vom 23.12.2003; Aktenzeichen 9 O 112/03)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 23.12.2003 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des LG Lübeck geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Die Klägerin, die die gesetzliche Krankenversicherin der am 5.1.1903 geborenen Elisabeth B. (im Folgenden Betroffene) ist, nimmt die Beklagte, mit der die Betroffene seit Dezember 1998 durch einen Heimvertrag verbunden ist, aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) auf Schadensersatz i.H.v. 5.268,44 Euro in Anspruch.

Die Betroffene lebt seit dem 22.12.1998 in dem von der Beklagten betriebenen Alten- und Pflegeheim "St.G." in L. Am 14.1.1999 wurde die Betroffene vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Schleswig-Holstein begutachtet, und zwar zwecks Feststellung ihrer Pflegebedürftigkeit. In dem Gutachten heißt es u.a., dass die Betroffene nicht allein aufstehen könne, beim Gehen gestützt werden müsse und dass sie nach Zeit und Ort desorientiert sei.

Am 3.3.2000 wurde die Betroffene als Notfall in das Universitätsklinikum Lübeck eingewiesen. Im Notfallaufnahmeformular heißt es, dass bei ihr mehrere ältere Hämatome vorhanden seien.

In der Nacht zum 17.6.2000 schlief die Betroffene unruhig. Sie wurde am Morgen des 17.6.2000 wie an jedem Tag in den Monaten zuvor in den Rollstuhl gesetzt, und zwar ohne sie im Rollstuhl durch eine etwaige Kippstellung oder einen Gurt zu sichern und ohne ihr eine Hüftschutzhose anzuziehen. Die Betroffene nahm in der Zeit von 8.00 Uhr bis 8.30 Uhr ihr Frühstück ein, wobei ihr eine Pflegekraft der Beklagten behilflich war. Eine Pflegekraft suchte das Zimmer der Betroffenen gegen 8.45 Uhr erneut auf. Sie fand die Betroffene vor dem Rollstuhl liegend vor. Durch den Sturz aus dem Rollstuhl hatte die Betroffene eine Oberschenkelfraktur links erlitten. Die Fraktur wurde zunächst stationär und dann ambulant behandelt. Dadurch fielen Kosten von insgesamt 10.304,19 DM (5.268,44 Euro) an, die die Klägerin ausglich.

Die Klägerin hat von der Beklagten Zahlung von 10.304,19 DM verlangt. Sie hat geltend gemacht, dass die Beklagte den Heimvertrag mit der Betroffenen schlecht erfüllt habe, indem sie die Betroffene ungesichert in den Rollstuhl gesetzt und die Betroffene nicht beaufsichtigt habe, obgleich die Betroffene in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe und obgleich die Betroffene allgemein sturzgefährdet gewesen sei, wie der Umstand belege, dass schon in dem Notfallaufnahmebericht vom 3.3.2000 von mehreren älteren Hämatomen die Rede sei. Zumindest habe die Beklagte für ein Tragen einer Hüftschutzhose sorgen müssen.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt. Sie hat geltend gemacht, dass eine Fixierung der Betroffenen im Rollstuhl eine freiheitsbeschränkende Maßnahme bedeutet hätte, die nur nach Anordnung einer Betreuung und nach vormundschaftsgerichtlicher Genehmigung einer entsprechenden Betreueranordnung zulässig gewesen wäre. Eine solche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung wäre nicht erteilt worden. Sie, die Beklagte, habe keine Veranlassung gehabt, eine Betreuung für die Betroffene anzuregen, damit ein Betreuer eine Fixierung im Rollstuhl anordne und die erforderliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einhole. Vor dem Vorfall am 17.6.2000 sei die Betroffene nie aus dem Rollstuhl gefallen, obgleich sie täglich in den Rollstuhl gesetzt worden sei. Der Notfallaufnahme im Krankenhaus am 3.3.2000 sei ein Sturz aus dem Bett, nicht aus dem Rollstuhl vorausgegangen. Eine Hüftschutzhose habe die Betroffene nicht besessen.

Das LG hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Beklagte eine sie aus dem Heimvertrag mit der Betroffenen treffende Nebenpflicht verletzt habe, nämlich die Pflicht, die Betroffene vor vermeidbaren Schäden zu bewahren. Die Beklagte hätte, da die Betroffene in der Nacht zum 17.6.2000 besonders unruhig gewesen sei, mit besonderer Müdigkeit rechnen müssen. Sie hätte daher die Betroffene entweder im Bett belassen oder im Rollstuhl fixieren müssen, um ein Herausstürzen aus dem Rollstuhl aufgrund von Müdigkeit zu verhindern. Die Fixierung hät...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge