Entscheidungsstichwort (Thema)

Strafbarkeit des sog. "Stealthing"

 

Leitsatz (amtlich)

1. Geschlechtsverkehr ohne Kondom unterscheidet sich von Geschlechtsverkehr mit Kondom wesentlich und ist daher eine eigenständige sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB.

2. Das "Stealthing" - also das absprachewidrige Entfernen eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr - ist jedenfalls dann gemäß § 177 Abs. 1 StGB strafbar, wenn der in einem engen raumzeitlichen Zusammenhang erklärte Widerwillen gegen einen Geschlechtsverkehr ohne Kondom bei vom Opfer unbemerkter vorsätzlicher Entfernung des Kondoms fortwirkt.

3. Eine derartige Veränderung des Sachverhalts begründet keinen täuschungsbedingten Willensmangel, der für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis unbeachtlich sein könnte.

 

Normenkette

StGB § 177 Abs. 1

 

Verfahrensgang

AG Kiel (Entscheidung vom 17.11.2020)

 

Tenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Kiel vom 17. November 2020 einschließlich der zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kiel zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Kiel hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Übergriffs im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB freigesprochen. Hiergegen wenden sich Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin mit ihren Revisionen.

Die zugelassene Anklage vom 30. April 2019 legt dem Angeklagten zur Last, er habe am 5. März 2018 gegen 17.30 Uhr die Wohnung der Nebenklägerin aufgesucht. Dort sei es zunächst zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Verwendung eines Kondoms gekommen, nachdem die Nebenklägerin den Angeklagten wie schon in der Vergangenheit auch an diesem Tag ausdrücklich mehrfach darauf hingewiesen gehabt habe, dass sie nur zum Geschlechtsverkehr bereit sei, wenn der Angeklagte ein Kondom benutze. Obwohl der Angeklagte dies gewusst habe, habe er nach dem Beginn des Geschlechtsverkehrs während einer Unterbrechung das Kondom von seinem Penis entfernt, ohne dass die Nebenklägerin dies bemerkt habe. Anschließend habe er den Geschlechtsverkehr - nunmehr ungeschützt - fortgesetzt. Die Nebenklägerin habe erst im Anschluss bemerkt, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ungeschützt ausgeführt habe.

Das Amtsgericht hat festgestellt, der Angeklagte habe den ihm vorgeworfenen Sachverhalt in objektiver Hinsicht eingeräumt. In subjektiver Hinsicht habe er sich dahingehend eingelassen, dass er davon ausgegangen sei, die Zeugin habe bemerkt, dass er den Geschlechtsverkehr ohne Kondom fortgesetzt habe und mangels Widerspruchs nunmehr damit einverstanden gewesen sei, zumal sie ihn nach der Unterbrechung durch ihr Verhalten zur Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs animiert habe.

Auf dieser Grundlage hat das Amtsgericht den Angeklagten schon aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattgefunden habe.

Maßgeblich abzustellen sei nicht auf das Einvernehmen hinsichtlich des durch Kondom geschützten Geschlechtsverkehrs, sondern hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs an sich. Das Einvernehmen müsse sich nach dem Wortlaut des § 177 StGB auf die sexuelle Handlung beziehen, das sei der Geschlechtsverkehr - unabhängig von der Benutzung eines Kondoms. Auch zeige die gesetzliche Überschrift des § 177 StGB, dass es in der Vorschrift um einen Willensbruch gehe, nicht um eine Täuschung des Sexualpartners. Einer anderen Auslegung stehe das strafrechtliche Analogieverbot entgegen.

Hiergegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin, beide halten das dem Angeklagten vorgeworfene Verhalten für strafbar im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin sind als Sprungrevisionen jeweils statthaft und zulässig. Sie haben mit der ausgeführten Sachrüge auch Erfolg.

Der Freispruch aus Rechtsgründen hält der Überprüfung durch den Senat nicht stand.

Allerdings reichen die Feststellungen des Amtsgerichts, das zwar den Angeklagten, nicht aber die Nebenklägerin gehört hat, für eine abschließende Prüfung nicht aus. Die Sache war deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.

Ob das "Stealthing" - also das heimliche Abziehen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs - nach § 177 Abs. 1 StGB strafbar ist, ist nach dessen Neuregelung in Rechtsprechung und Wissenschaft unterschiedlich betrachtet worden. Die Vorschrift wurde umfassend durch das 50. StÄG v. 4. November 2016 (BGBl. I, 2460) modifiziert, mit welchem der sogenannte "Nein-heißt-nein"-Ansatz implementiert wurde. Jegliche sexuellen Handlungen im Sinne des § 184h StGB gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sollen nun strafbar sein, unabhängig davon, ob diese hierzu genötigt wird; zur Strafbarkeit bedarf es nicht mehr zwingend eines Nötigungselementes in Form von Gewalt, Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und...

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